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Kein frommer Wunsch
Peter Brandt, Dieter Segert und Gert Weisskirchen fordern ein Helsinki 2.0
Politische Veränderungen bedürfen weitsichtiger Politiker, die die Chancen auf eine politische Umkehr ergreifen«, liest man eingangs des hier anzuzeigenden Buches. In der Tat, das gilt für alle Zeiten, damals wie heute. Damals, Mitte der 70er, bewiesen Politiker, in Ost wie West, politische Vernunft. Es tobte ein Kalter Krieg zwischen den Blöcken, die zwei konträre gesellschaftliche Systeme repräsentierten. Die Welt balancierte mehr als einmal am Abgrund eines neuen, dritten Weltkrieges, gar einer nuklearen Konfrontation. Kuba-Krise, Stellvertreterkriege in Asien und Afrika, eine sich schwindelerregend hochschraubende Aufrüstungsspirale … Und dann Helsinki, das hoffnungsvolle Jahr 1975.
Was heute kaum einer mehr weiß oder ausspricht: Die Initiative ging vom »Ostblock« aus. Am 5. Juli 1966 schlugen die Staaten des Warschauer Vertrags, das realsozialistische Pendant zur Nato, auf ihrem Treffen eine »Konferenz über Fragen der Europäischen Sicherheit« vor. Unterstützt wurde der Vorschlag von den im Folgejahr, vom 24. bis 26. April 1967, im tschechischen Karlsbad tagenden Vertretern kommunistischer und Arbeiterparteien Europas. Der Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten am 20./21. August 1968 in die Tschechoslowakei, die gewaltsame Niederschlagung des »Prager Frühlings«, ließ indes dann an der Lauterkeit der Initiative des Ostens zweifeln.
Inzwischen war jedoch die Schar der an Entspannung interessierten Politiker im Westen angewachsen. Am 11. April 1969 signalisierten Vertreter der Nato-Staaten in Washington Verhandlungsbereitschaft. Und bereits am 9. Mai bot die finnische Regierung an, ein Vorbereitungstreffen in Helsinki abzuhalten.
Damit eine zivilisierte Weltordnung möglich wird, sind die Interessen jener Staaten und Völker anzuerkennen, die viel zu lange als »Dritte Welt« subsumiert und wie unmündige Kinder behandelt wurden.
Rechtzeitig vor dem 40. Jahrestag der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki ist dieses hochaktuelle Buch erschienen. Es dürfte nicht verwundern, dass zu den Herausgebern der Historiker Peter Brandt gehört, ältester Sohn des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland Willy Brandt, der mit seiner Neuen Ostpolitik maßgeblich den Weg nach Helsinki mit geebnet hat. Mitherausgeber sind der ostdeutsche Politikwissenschaftler Dieter Segert und der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen.
Die Autorenschaft ist bunt gemischt, Stimmen aus Ost wie West, Menschen mit wissenschaftlichen Meriten und politischen Erfahrungen kommen hier zu Wort, darunter erfreulicherweise auch Bürgerrechtler. Denn gerade auch Letztere hatten beiderseits des »Eisernen Vorhang« ihren Anteil an den gesellschaftlichen Veränderungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Die Geschichte ist offen, betonen die Herausgeber mehrfach. Und das bedeute, dass politischem Handeln ein besonders hoher Stellenwert zukomme. Die Helsinki-Konferenz 1975 habe den Beginn für den Wandel im sowjetischen Herrschaftsbereich markiert, der 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer seinen symbolischen Höhepunkt gefunden habe. Zugespitzt könnte man aber auch formulieren: Mit den Umbrüchen in Osteuropa und dem Zerfall der Sowjetunion fand die KSZE ein bedauernswertes, schmähliches Ende. Die aus dieser hervorgegangene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die am 1. Januar 1995 die internationale Bühne betrat, ist mittlerweile auch nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Peter Brandt, Dieter Segert und Gert Weisskirchen sprechen von einem »doppelten Geschichtsbruch«: »Der eine, das Ende des autoritären Staatssozialismus, wurde begleitet vom Ende der Ost-West-Konfrontation. Es war verbunden mit der Hoffnung auf eine friedliche Welt. Der andere, das langsame Zerbröckeln und die Zerstörung der schon gelegten Fundamente dieser Ordnung gemeinsamer Sicherheit, führte hinein in die tiefe Krise in den globalen politischen Beziehungen, vor der wir heute stehen.«
Es ist das große Verdienst dieses Buches, nicht nur zurückzuschauen, sondern die Gegenwart zu analysieren und Ausblicke zu wagen, mögliche Auswege zu skizzieren. Vermutlich auch, um ungerechtfertigten Unterstellungen vorzubeugen, prononcieren die Herausgeber, dass die aktuelle weltpolitische Krise »nicht nur das Ergebnis des Handelns oder Unterlassens von Akteuren aus Ost- und Westeuropa« sei, wobei sie aus innerer Überzeugung ergänzen: »Sie wurzelt auch nicht allein in der Suche der russischen Elite nach der Absicherung ihrer Herrschaft nach den katastrophalen 1990er Jahren.«
Die Ursprünge der jetzigen globalen Krise verorten sie ebenso in den Erschütterungen der internationalen Finanzwelt 2008 sowie im mittlerweile gravierend »veränderten Kräfteverhältnis zwischen der alten Weltmacht USA und der aufsteigenden Weltmacht China. Vor diesem Hintergrund verloren die Prinzipien der Entspannung an Relevanz, und die Geopolitik, das Streben von Groß- und Mittelmächten nach Absicherung ihrer Einflusssphären, gewann wieder an Gewicht.«
Es seien heute nicht nur »die zwei Großkonflikte Krieg in der Ukraine und in Nahost, die uns zu Recht beunruhigen«, warnen die Herausgeber und erwähnen die vielen weiteren Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht: ein Knäuel von Krisen und Konflikten, darunter Klimawandel und erneut wahnsinniger Rüstungswettstreit, was in den Beiträgen der kundigen Autoren detaillierter behandelt wird.
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Peter Brandt, Dieter Segert und Gert Weisskirchen benennen die Alternative, mit der wir heute konfrontiert sind: »Entweder entsteht eine Welt zunehmender Positionskämpfe von alten und neuen Großmächten, zwischen dem ›Westen‹ und aufsteigenden Staaten des ›Globalen Südens‹, welche die Gefahr einer letzten Konfrontation (eines ›Dritten Weltkriegs‹) in sich birgt … Oder aber, der Politik gelingt es, im Angesicht der Gefahren den Weg in eine neue, zivilisierte, gerechtere Weltordnung zu finden und energisch zu beschreiten.«
Damit Letzteres möglich wird, sind die Interessen jener Staaten und Völker anzuerkennen, die viel zu lange unberücksichtigt blieben, vom Westen als »Entwicklungsländer« oder »Dritte Welt« subsumiert, wie unmündige Kinder behandelt wurden. »Für eine neue europäische Sicherheitsordnung wäre es zudem wichtig, dass China als ein Staat, dessen Interessen und Macht in den europäischen Raum hineinreichen, in die Verhandlungen eines Helsinki-2.0-Abkommens einbezogen wird«, bekräftigen die Herausgeber. »Die künftige europäische Sicherheitsarchitektur wird jedenfalls in eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung eingebettet sein müssen.«
Eine wichtige Aufgabe sei es auch, die Uno zu modernisieren, ihre Struktur der heutigen geopolitischen Weltkarte anzupassen, die 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine völlig veränderte ist. Peter Brandt, Dieter Segert und Gert Weisskirchen scheuen sich nicht, gar die kühne Hoffnung zu artikulieren: »Es könnte im besten Fall eine Ordnung entstehen, in der regionale Militärbündnisse überflüssig sein werden. Das würde die Fähigkeiten zur Bewältigung der gravierenden Probleme dieses Planeten, die existenziell sind, enorm beschleunigen.« Ihr Wunsch möge Eingang finden, nein, nicht nur in »Gottes Ohr«, sondern in die Gehörgänge aller Politiker dieser Welt, in die Köpfe aller Menschen. Das ist kein frommer Wunsch.
Peter Brandt/Dieter Segert/Gert Weisskirchen (Hg.): Doppelter Geschichtsbruch. Der Wandel in Osteuropa nach der Helsinki-Konferenz 1975 und die Zukunft der europäischen Sicherheit. J. H. W. Dietz, 576 S., geb., 38 €.
Veranstaltungstipp: nd-Hofkino, »Der Helsinki-Effekt«, Dokumentarfilm von Arthur Franck; vorab Gespräch mit Karin Schüttpelz (Policy Adviser für Außen- und Sicherheitspolitik) und Walter Baier (Europäische Linke), Moderation: Uwe Sattler, 1. August, ab 15 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.
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