Aus dem Leben einer Lehrerin

Henning Sußebach hat seine Urgroßmutter Anna nicht gekannt, aber eine schöne Biografie über sie geschrieben

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.
»Fräulein Lehrerin« um 1900 war streng. Das kann man im Schulmuseum Leipzig erfahren.
»Fräulein Lehrerin« um 1900 war streng. Das kann man im Schulmuseum Leipzig erfahren.

Jeder Mensch hat vier Urgroßmütter. Die wenigsten von uns haben ihre kennengelernt. Jede von ihnen hat ein eigenes Leben gelebt. Manches war origineller und bewegter. Nicht jede hat einen Urenkel, der dieses Leben nachzuzeichnen versucht. Und kaum eine dürfte einen Urenkel haben, der dafür über so überzeugende sprachliche Mittel verfügt wie der Journalist Henning Sußebach, der die Geschichte seiner Urgroßmutter Anna, erzählt.

Er hat sie nie kennengelernt. Unter seiner Recherche und der Feder bleibt viel. Die Lücken, die er nicht schließen konnte, hat Sußebach plausibel nach eigenem Gutdünken geschlossen. So schön Kunststopfen können nur wenige.

Wer war diese Urgroßmutter Anna Kalthoff, von der sich die Leserinnen anhand einiger erhalten gebliebener Fotos ein Bild machen können? Eines in jungen Jahren zeigt eine recht hübsche Frau mit einem leicht spöttischen Spiel um die Lippen, die späteren dann eine reife, ansehnliche, das letzte eine vielleicht schon etwas müde Frau. Sie ist 1866 in Horn nahe Soest im Ruhrgebiet geboren, verlor in jungen Jahren ihren Vater und musste zu einer Lehrerin-Ausbildung – »bekomme ich dann einen Buckel?«, soll sie gefragt haben – ins niederländische Klosterdorf Steyl ausweichen. Denn als Katholikin konnte sie sich während des von Bismarck angezettelten Kulturkampfes nicht in Preußen zur Lehrkraft ausbilden lassen.

Anna ist erst 20, als sie ihre erste Stelle in Cobbenrode im Sauerland antritt. Sie wird vor eine Klasse gestellt, schlecht bezahlt und muss sehr einfach wohnen. Sußebach beschreibt die unfreie Stellung eines ledigen Fräuleins in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt. Sie verliebt sich in Clemens, den etwas jüngeren Sohn der wohlhabenden Schankwirtsfamilie, die zugleich die Poststation betreibt. Es sind Honoratioren des Ortes. Auch Clemens verliebt sich in Anna. Die Verbindung wird von seiner Familie missbilligt, wegen des Klassenunterschieds. Clemens lernt beim Vater das Postwesen. Als der Patriarch stirbt, ist die Bahn für das Paar frei – zwölf Jahre nachdem sie sich ineinander verliebt haben, heiraten sie. Clemens erbt Gasthaus und Poststation und Anna kündigt ihre Stellung als Lehrerin, weil ein preußisches Gesetz von Lehrerinnen verlangt, dass sie ledig bleiben.

Anna wird in das Post-Gasthaus integriert, das auch ein kleines Kaufhaus ist, nebenher wird eine Landwirtschaft betrieben. Sie findet sich schnell ein, zum Glück, denn ihr Mann kommt nach wenigen Monaten bei einem Unfall ums Leben. Notariell hat er Anna alles vererbt. Anna ist schwanger, wird »alleinerziehende Mutter« und Klein-Unternehmerin. Sie meistert alles bewundernswert, die Doppelbelastung als Mutter eines Sohnes, als Betreiberin einer Poststelle, als Gastwirtin, Kauffrau und Landwirtin. Den Begehrlichkeiten der Männer von Cobbenrode kann die inzwischen wohlhabende Witwe ausweichen, bis – wiederum Jahre später – ein viel jüngerer Lehrer ihre Gunst erlangt. Sie heiratet wieder und wird, nun schon an die vierzig, wieder schwanger. Die trotz vieler Bedenken gesund geborene Tochter wird die Großmutter des Autors sein – das glücklich geborene und notwendige Glied zwischen Urgroßmutter und Urenkel.

Henning Sußebach berichtet über das, was seine Recherchen aus überlieferten Poesiealben und anderen Quellen ergaben und fügt Fiktionales zu diesem vollendeten Porträt. Den Hintergrund bilden Zitate aus Schulbüchern der Zeit, aus Gesetzen und zu den jeweiligen Jahreszahlen ausgewählte Ereignisse aus aller Welt, Erfindungen, Attentate, Geburten. Dem Leser bietet sich ein farbiges Bild der damaligen Lebensumstände. Anna stirbt 1932. Sußebach wird 40 Jahre später in Bochum geboren und ein angesehener Reporter der »Zeit«. Was von seiner Urgroßmutter bleibt, hat er für diese sehr schöne Hommage aufgelesen oder voller Respekt hinzugedichtet.

Henning Sußebach: Anna oder: Was von einem Leben bleibt. Die Geschichte meiner Urgroßmutter. C.H.Beck, 208 S., geb., 23 €.

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