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Serbien: Showdown für Vučić
Nach gewaltsamen Angriffen von Regierungsanhängern auf Demonstrierende radikalisiert sich die Protestbewegung in Serbien
Die Videos aus Serbien sind teilweise schwer zu ertragen. Auf ihren Instagram-Kanälen dokumentiert die Protestbewegung die Gewalt auf den Straßen des Landes. Gruppen von Polizisten in Kampfmontur, die auf einzelne, am Boden liegende Demonstrierende einprügeln. Feuerwerk, das in die Menge geschossen wird. Blutüberströmte Menschen. Tränengas, Polizeipanzer, Schüsse in die Luft. Ein Dreivierteljahr nach dem Beginn der Proteste gegen die autoritäre Regierung von Aleksandar Vučić setzt diese nun auf komplette Eskalation.
Die aktuelle Welle der Gewalt begann am 12. August in den Kleinstädten Vrbas und Bačka Palanka, als Anhänger der Regierung Proteste der Opposition mit Pyrotechnik angriffen und die Polizei tatenlos zusah. Über Monate hinweg war Gewaltfreiheit ein zentraler Aspekt der Protestbewegung. Zum einen will man dem Regime keine Angriffsfläche bieten, zum anderen versteht man die Gewaltfreiheit aber auch als Akt des Widerstands. Denn Gewalt ist in Serbien allgegenwärtig.
Die Empörung über Attacken, vor allem durch Anhänger*innen der Regierungspartei SNS, auf Oppositionelle trug zu Beginn der Proteste zum Erstarken der noch jungen Bewegung bei. Besonders der Fall einer Studentin aus Novi Sad, der im Januar von Regierungsanhängern der Kiefer gebrochen worden war, löste eine Solidaritätswelle aus. Die Täter wurden zunächst verurteilt, was in Serbien nicht selbstverständlich ist. Mittlerweile hat Vučić sie allerdings begnadigt und als Helden bezeichnet. Als die Regierung am 28. Juni eine Schallkanone gegen eine große Oppositionsdemonstration in Belgrad einsetzte, beendeten die Organisator*innen die Veranstaltung umgehend, um gewalttätige Zusammenstöße zu vermeiden. Die Waffen der Bewegung waren und sind Kreativität und Humor.
Allerdings scheinen die Angriffe nach Monaten des zivilen Ungehorsams das Ende der Gewaltlosigkeit bewirkt zu haben. Protestierende demolierten landesweit Parteibüros der SNS; die Regierung reagierte mit brutaler Repression. Seit der Eskalation gibt es jeden Abend Massenproteste, tausende Menschen versammeln sich landesweit, vor allem vor Lokalen der SNS. Sie demonstrieren weiter gegen die Regierung und für eine Freilassung der Gefangenen.
»Ihr werdet eine Reaktion des Staates sehen, die ganz anders sein wird als alles, was ihr bisher erlebt habt.«
Aleksandar Vučić Serbischer Präsident
Aktuell erregt besonders der Fall von Nikolina Sindelić Aufmerksamkeit. Die Studentin wurde am 14. August auf dem Rückweg von einem Protest in Belgrad von Vermummten zusammengeschlagen. Laut ihrer Aussage schlug Marko Kričak, Kommandeur der Spezialeinheit JZO, ihren Kopf mehrmals gegen eine Betonwand und drohte, sie zu vergewaltigen. Kaum war ihre Aussage öffentlich, leakte die Regierung alte Nacktbilder von Sindelić. In Belgrad gab es daraufhin eine Demonstration, auf der unter anderem die Absetzung und strafrechtliche Verfolgung von Kričak gefordert wurde. Das Motto: »Wir sind alle Nikolina.« Solidarität wird in der Bewegung großgeschrieben. Werden Demonstrierende verhaftet, gibt es Proteste vor Polizeistationen und Gefängnissen. Geschäfte, die von Schlägertrupps demoliert werden, erhalten sofort Unterstützung. Die Botschaft immer und überall: Niemand ist allein.
»Ausländische Agenten«
Es ist naheliegend, dass die aktuelle Eskalation bewusst von Vučićs Regime herbeigeführt wurde. Die Taktik, Schlägertrupps statt regulärer Polizeikräfte gegen Protestierende einzusetzen, ist in Serbien nicht neu. Mit deren Hilfe versucht der Präsident das Narrativ der ›anständigen Bürger‹ zu etablieren, die die Nase voll von den Protesten haben. Die Polizei lässt die Schläger in der Regel gewähren. Auf Instagram-Videos sind immer wieder vermummte Gruppen zu sehen, die sich offensichtlich mit der Polizei absprechen. Es könnten Zivilbeamte sein, aber auch Hooligans. Die Übergänge sind fließend.
Zudem kommt der Zeitpunkt der Eskalation der Regierung gelegen: August ist Haupturlaubszeit in Serbien, viele Menschen befinden sich nicht in den Städten.
Schon lange diffamiert Vučić die Protestierenden als ausländische Agent*innen, mittlerweile auch als Terrorist*innen und Mörder*innen. Bisher ist seine Strategie, die Demonstrierenden zu diskreditieren, aber kaum aufgegangen. Einer Umfrage vom Frühjahr zufolge sympathisieren 80 Prozent der Serb*innen mit den Protesten.
Die aggressive Rhetorik erlaubt es der Regierung jedoch, eine weitere Eskalation vorzubereiten. So spricht Vučić mittlerweile davon, er befürchte Tote bei den Protesten, und bezeichnete Demonstrierende als Mörder. Seine Rede am Sonntag beinhaltete denn auch eine offene Drohung: »Bislang haben wir gesehen, wie sie Chaos in unser Land getragen haben – und wir werden sie besiegen. Wir brauchen nur wenig Zeit, und ihr werdet eine Reaktion des Staates sehen, die ganz anders sein wird als alles, was ihr bisher erlebt habt.« Zuletzt sprach der serbische Präsident gar von »Säuberungen«, die der Staat durchführen werde. Für den Bürgerkrieg, der angeblich verhindern werden soll, trifft Vučić gerade selbst die Vorbereitungen. Er hat zwar die Unterstützung der Bevölkerung verloren, aber ist geübt darin, sich an der Macht zu halten. Dabei ist er bereit, zum Äußersten zu gehen.
Internationaler Druck könnte ihn möglicherweise stoppen. Doch die EU, die mit Serbien eine Partnerschaft bei der Förderung kritischer Rohstoffe vereinbart hat, will Vučić keinen Anlass bieten, sich stärker an China oder Russland zu binden. Deshalb lässt sie die größte Demokratiebewegung in einem Beitrittsland schlicht hängen. »Krvave su vam ruke« (An euren Händen klebt Blut), ein Slogan aus der Anfangszeit der Proteste, gilt spätestens jetzt auch für Brüssel.
Ein Ende der Proteste ist nicht absehbar, mehr Repression hat bisher stets dazu geführt, dass mehr Menschen auf die Straße gehen. Und die Demonstrierenden haben ihre Zuversicht nicht verloren. Die Zahl der Memes scheint parallel zur Gewalt zu eskalieren. Auf Social Media kursieren neben den Gewaltvideos auch Clips, die sich über Polizei und Regierung lustig machen. Eine Aufnahme einer großen Demonstration, die eine Autobahnauffahrt hinunterströmt, ist mit dem Musikstück »Ritt der Rohirrim« aus den »Herr der Ringe«-Filmen unterlegt. Das Stück begleitet jene Szene, in der die verzweifelte Schlacht um Gondor verloren scheint, aber plötzlich die Reiter von Rohan einen Berg hinabströmen und das Blatt wenden.
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