Ute Cohen plädiert für das Anderssein

Ute Cohen schreibt kenntnisreich »über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.
Aus der Garderobe des Individualisten unter Konformitätsdruck
Aus der Garderobe des Individualisten unter Konformitätsdruck

Wer über das Buch »Glamour« redet, muss über dessen Autorin Ute Cohen sprechen. Sie ist das, was man früher anerkennend eine Dame von Welt nannte. Also eine belesene, weit gereiste, vielseitig interessierte Frau, die sich sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen weiß.

Das war ihr nicht in die Wiege gelegt. Als bayerisches Arbeiterkind profitierte sie von einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, das es ihr ermöglichte, Linguistik und Geschichte zu studieren und zu promovieren. Später lebte sie viele Jahre in Paris, was sie kulturell geprägt hat. Mittlerweile wohnt sie in Berlin und publiziert Romane, Essays und Interviews (u.a. mit Michel Houellebecq). Im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Cohen’s Club« ist sie Gastgeberin von »Booksoirées«, bei denen »Freigeistigkeit, Wandlungsfähigkeit und Savoir-vivre ihren Auftritt haben. Meine Gäste sind neugierig auf das Leben, verspüren Lust an der Sprache und wissen Kunst und Literatur zu schätzen.« Also Menschen wie der Kulturphilosoph Bazon Brock und der Autor Peter Prange.

Dieser biografische Hintergrund ist nicht unwichtig zum Verständnis von »Glamour«. Denn das Buch handelt von der geistigen Welt, in der sich Ute Cohen bewegt und die sie gefährdet sieht. Nun ist Deutschland nie das Land des Glamours gewesen, eher das der Sachbearbeiter. Mit Glamour verbindet man hierzulande Glitter und Prunk – und liegt damit gründlich daneben.

Dessen ist sich auch Ute Cohen bewusst. Bereits in der Einleitung verdeutlicht sie am Beispiel der Schauspielerin Ava Gardner, dass Glamour nichts mit Attitüde zu tun hat, also mit zur Schau gestellten Äußerlichkeiten, sondern mit »attitude« – die innere Einstellung ist es, die dem Glamour seine Strahlkraft verleiht.

Doch genau da beginnt das Problem. 500 Jahre Protestantismus haben ihre Spuren hinterlassen. Dazu bedarf es nicht mal mehr einer Amtskirche. Wer durch Eltern, Lehrer oder falsche Freunde verinnerlicht hat, sein eigenes Denken und Handeln immer wieder vor sich rechtfertigen zu müssen (weil es ja keinen Pfaffen gibt, der nach erfolgter Beichte Absolution erteilt und so den Weg für neue Sünden freimacht), tut auf Dauer seiner Psyche Gewalt an. Schlimmer noch: Der will, dass auch andere sich selbst kasteien und Buße tun. Ute Cohen sieht in diesen verhärmten Gestalten, die mit ihrem »Moralexhibitionismus« auch ihrer Umwelt das Leben verleiden, eine Gefahr. Sie zitiert den exzentrischen österreichischen Schauspieler Helmut Berger: »Die Deutschen haben keine Ahnung von Freiheit.«

Und womit bekämpfen diese »glanzlosen Tugendhüter« die Freiheit? Ihr Werkzeug ist der »Authentizitätskult«. Womit man zum Kern des 184-seitigen Essays gelangt. Ute Cohens Denken kreist um die Frage: Was ist authentisch? Unweigerlich denkt man an die Standardfloskel der Wald-und-Wiesen-Psychologie: »Sei du selbst!« Doch worin drückt sich dieses Selbst-Sein aus?

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Am Beispiel von David Bowie verdeutlicht Ute Cohen, dass Authentizität, wie sie die »Schwarz-Weiß-Denker« verstehen, ein Konstrukt ist, ja, eine Lüge. Welcher ist der authentische Bowie? Derjenige, der Ziggy Stardust war? Oder sein Nachfolger Aladdin Sane? Oder der Dandy von »Young Americans«? Oder der Thin White Duke? Oder am Ende gar der Bowie, den noch keiner kannte? Spätestens jetzt begreift man, dass Identität eben kein Stahlbetonträger ist, sondern ein Wackelpudding, der je nach Lebensphase unterschiedlichste Formen annehmen kann.

Ja, Identität ist manchmal purer Zufall. Ute Cohen erzählt die kuriose Geschichte von Tom Wolfe (»Fegefeuer der Eitelkeiten«), der sich einen weißen Anzug für den Sommer anfertigen ließ. Nur hatte der Schneider einen zu dicken Stoff gewählt, der für die heiße Jahreszeit ungeeignet war. Also machte Wolfe aus der Not eine Tugend und trug den weißen Anzug im Winter. Und siehe da: Alle gafften. Wolfe, seit jeher mit einem feinen Gespür für gesellschaftliche Stimmungen ausgestattet, begriff: Unbeabsichtigt hatte er für sich ein Markenzeichen erschaffen. Also trug er den Anzug konsequent bei allen öffentlichen Anlässen. Bald verbanden die Leute seine Person mit diesem Kleidungsstück. Eine Metamorphose hatte stattgefunden: Der inszenierte Wolfe wurde als der authentische Wolfe wahrgenommen.

Zudem verlieh der weiße Anzug dem Schriftsteller Glamour. In einer uniformen Welt, die von Jeans- und Business-Dress-Trägern geprägt war, ragte Wolfe optisch heraus. Nicht jeder fühlt sich dabei wohl. Paradiesvögel werden bewundert, aber auch ausgelacht. Der Untertitel des Buchs thematisiert dies: »Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren«.

Und doch appelliert Ute Cohen an ihre Leser, genau das zu tun. In einer Zeit, in der es leider wieder selbstverständlich geworden ist, Menschen pedantisch in Schubladen zu stecken (in dieser Hinsicht sind sich Rassisten und woke Linksliberale ähnlicher als ihnen lieb ist), bedarf es des Glamours. Er ist das weithin sichtbare Statement: »Ich gehöre nicht dazu. Ich will anders sein.« Und damit endet der Text – ich muss zum Schneider.

Ute Cohen: Glamour. Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren. zu Klampen Verlag, 184 S., 22 €.

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