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Griechenland: »Wir brauchen dringend Sauerstoff«
Erneute Massenproteste in Griechenland fordern »Gerechtigkeit« nach Zugkatastrophe
Zehntausende Menschen versammelten sich am Samstag in Athen, Thessaloniki und anderen griechischen Städten, um Aufklärung über die Zugkatastrophe von Tempi zu fordern. Das Unglück vom 28. Februar 2023, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen, gilt als Ergebnis jahrzehntelanger Missstände im griechischen Schienennetz und als Symbol eines maroden Staates. Auch zwei Jahre nach der Katastrophe gibt es immer noch keinen Prozess. Auch die politische Aufarbeitung bleibt umstritten.
Bewegend waren auf der zentralen Kundgebung am Syntagma-Platz in Athen die Worte von Maria Karystianou, Mutter eines der Opfer und Präsidentin der Vereinigung der Opfer und ihrer Angehörigen. Sichtlich gerührt dankte sie allen, die gekommen waren, um die Familien zu unterstützen, »um wieder eine gemeinsame Stimme zu sein« und Gerechtigkeit zu fordern sowie »über das Griechenland zu sprechen, das wir verdienen«. Sie machte klar, dass es nicht nur um die Opfer gehe: »Das Verbrechen von Tempi betrifft nicht 56 Familien, es betrifft die ganze Gesellschaft. Jeder von uns hätte an jenem verhängnisvollen Abend in diesem Zug sitzen können.«
Sie bedankte sich besonders bei den jungen Menschen, die jeden Abend neben den Namen der 57 Toten sitzen, die auf den Platz vor dem Parlament mit roter Farbe geschrieben sind. »Wir träumen von einem gerechten, schönen und unabhängigen Land für die Träume, die unsere Kinder nicht leben konnten.«
Schwere Vorwürfe der Hinterbliebenen
Anlass für die Proteste war der Abschluss der offiziellen Ermittlungen in der vergangenen Woche. Dabei sorgte insbesondere der neueste Autopsiebericht der Feuerwehr für Empörung. Denn der ignorierte die Untersuchung des Staatlichen Chemischen Labors, die in den verunglückten Zügen weitere zwölf Kohlenwasserstoffproben fand. Die Hinterbliebenen sind sich sicher, dass der Prozess in einem Fiasko endet und verschleiert wird, wer für das Unglück verantwortlich ist.
Einer der zentralen Vorwürfe der Bewegung lautet, es werde nicht genug getan, um die Ursache des Brandes nach der Kollision aufzuklären. Am 28. Februar, genau zwei Jahre nach dem Unglück, gab es unter dem Slogan »Wir brauchen Sauerstoff« – in Anlehnung an eine Telefonnachricht eines Opfers während des Brandes – die größten Proteste seit dem Ende der Diktatur. Die Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis steht dadurch zunehmend unter Druck, da sie in der Vergangenheit das Vorhandensein von leicht entflammbaren Material sogar als Fake-News betitelt hat.
Die Zugkatastrophe von Tempi, Griechenlands tödlichster Zugunfall, ereignete sich, als ein Personenzug mit über 350 Passagieren, darunter viele Studenten, außerhalb von Larissa frontal mit einem Güterzug kollidierte. Die Kollision führte zu einer gewaltigen Explosion und einem Brand, wodurch mehrere Opfer verbrannten. Die Untersuchungen ergaben systemische Mängel, darunter veraltete Infrastruktur, unzureichende Sicherheitssysteme und menschliches Versagen, wobei ein Fehler des Bahnhofsvorstehers bei der Zugführung dazu führte, dass die Züge auf dieselbe Gleisstrecke geleitet wurden. Der Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission deutet auf das Vorhandensein leicht entflammbarer Chemikalien im Güterzug hin. Es handelt sich um Xylol und Toluol – Kohlenwasserstoffe, die als Lösungsmittel dienen und entgegen der Sicherheitsbestimmungen im Zug mitgeführt wurde.
Premierminister Mitsotakis gerät immer mehr in Bedrängnis
Der konservative Regierungschef stand am Wochenende ohnehin im Fokus der Öffentlichkeit, da er zur Eröffnung der Internationalen Handelsmesse in Thessaloniki anwesend war – eine Bühne, die traditionell genutzt wird, um politische Weichenstellungen für die kommende Saison zu präsentieren. Doch statt mit einer wirtschaftspolitischen Agenda Schlagzeilen zu machen, sah sich Mitsotakis erneut mit den lauten Protesten konfrontiert, die auch in Thessaloniki Tausende auf die Straßen brachten.
Kritiker werfen ihm vor, die Verantwortung für strukturelle Mängel im Schienennetz und im Krisenmanagement herunterzuspielen. Dass seine Partei eine parlamentarische Untersuchung zur Katastrophe behinderte und Informationen kontinuierlich zurückhielt, ist für viele der Beweis, dass die politische Elite nicht willens ist, die Ursachen lückenlos aufzuklären – auch weil mögliche Versäumnisse bis in höchste Ebenen reichen könnten.
Polizei geht gegen Demonstrierende vor
Allein in Thessaloniki waren über 3000 Polizeibeamte im Einsatz, um den Auftritt von Mitsotakis abzusichern. Bei den Protesten in Athen kam es gegen Ende der Kundgebung zum Tränengaseinsatz gegen Protestierende. Im linksalternativen Stadtteil Eksarchia in Athen kam es bis in die Nacht zu Polizeieinsätzen. Laut Videoberichten und Zeugenaussagen setzte die griechische Riot-Polizei MAT Tränengas und Schockgranaten in Cafés ein.
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