Gen Z mischt Nepal auf

Die neue Regierungschefin Sushila Karki hat den Rückhalt der Straße

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.
Demonstranten feiern auf der Spitze des Singha Durbar, dem nepalesischen Regierungssitz.
Demonstranten feiern auf der Spitze des Singha Durbar, dem nepalesischen Regierungssitz.

Kann Sushila Karki als neue Regierungschefin die Turbulenzen glätten und das schlingernde Staatsschiff wieder in ruhige Fahrwasser leiten? Einmal mehr steht Nepal am Scheideweg. Vor knapp zwei Jahrzehnten endete in dem schmalen Landstreifen im Himalaja zwischen den beiden übermächtigen Nachbarn China und Indien der zehnjährige Bürgerkrieg, in dem Guerillaeinheiten der Maoisten gegen die Armee kämpften. Zwei Jahre später schaffte eine Mehrheitsentscheidung die tief verankerte Monarchie ab – Nepal wurde zur föderalen Republik und der vielen verhasste, autoritäre letzte König Gyanendra Shah wurde zum Privatmann.

Viele Reformen sind seither aber aus verschiedenen Gründen ausgebremst worden. Geändert hat die Neuaufstellung seit 2008 auch nichts daran, dass die politische Kaste vorrangig mit sich selbst statt der Lösung der vielfältigen Probleme beschäftigt ist. Nur selten haben Regierungen mehr als ein oder zwei Jahre überstanden. Die wechselseitigen Koalitionen der drei größten Parteien, vom Bündnispartner zum erbitterten Gegner und umgekehrt rotierend, waren meist von Beginn an brüchig.

Jugend frustriert vom verkrusteten System

Gegen das verkrustete System, gefühlten Stillstand und grassierende Korruption war Anfang September vier Tage lang die frustrierte Jugend auf die Straße gegangen. 20,8 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Nachdem die Regierung 26 Social-Media-Plattformen und Messenger-Dienste wie Facebook, Tiktok und Signal verboten hatte, eskalierten landesweit die Proteste – gemeinsam organisiert von zehntausenden Nepalesen der Gen Z auf der Plattform Discord. Nach vorläufigen Zahlen gab es 72 Todesopfer, Hunderte Verletzte und gravierende Sachschäden (Schätzungen gehen von 25 Milliarden Rupien, also 150 Millionen Euro, aus) bei den Protesten mit übermäßiger Polizeigewalt. Mehrere Residenzen von Spitzenpolitikern wurden gestürmt, auch der denkmalgeschützte Regierungssitz Singha Durbar (»Löwenpalast«).

Vor allem der Rücktritt von Ex-Premier Khadga Prasad Sharma Oli am 9. September hat die Lage leidlich beruhigt. Er hatte eine Koalition seiner Vereinten Marxisten-Leninisten (CPN-UML) mit dem liberalen Nepali Congress (NC) angeführt. Die Maoisten waren Oppositionsführer.

Neue Premier über Messenger gewählt

Nach dem Rücktritt der Oli-Regierung kürte die Gen-Z-Bewegung auf Discord in ein paar Tagen Sushila Karki zur Interims-Premierministerin ihrer Wahl. Premier Oli beugte sich schließlich dem Druck der Straße, akzeptierte die digitale Discord-Wahl und ernannte Karki zur Interimschefin. Neuwahlen sind für März 2026 geplant.

»Die Gen-Z-Bewegung ist ein herausragendes Beispiel, wie sich lange unterdrückte Stimmen in explosiver Weise Gehör zu verschaffen suchen«, konstatiert Khim Lal Devkota in einem aktuellen Kommentar der Tageszeitung »Kathmandu Post«. Dort listet er die vielen Verfehlungen auf, die zu dieser Protest-Eruption geführt haben. Nicht nur seien seit Jahren die gleichen Parteien und Spitzenpolitiker bestimmend. Selbst in den eigenen Reihen würden Kritik und neue Ansätze unterdrückt. Nun gehe es um kritische Grundsatzfragen zu demokratischem System, Verantwortung und Zukunft des Föderalismus. In all dem liege eine große Chance: Man könne »den Frust von heute in die Reformen von morgen verwandeln«.

Sushila Karki wird erste Premierministerin Nepals

Sushila Karki war die erklärte Wunschkandidatin der jungen Leute auf der Straße, um die kritische Übergangszeit zu überwachen. Schon 2016 schrieb sie als erste Frau an der Spitze des Obersten Gerichts Geschichte, nun tut sie es als erste Premierministerin des noch immer tief patriarchalischen Landes erneut. Eine ihrer ersten Entscheidungen nach Amtsantritt am 12. September war die Berufung der renommierten Juristin Savita Bhandari Baral zur Generalstaatsanwältin – ebenfalls ein Novum. Karkis Kabinett, mit 15 statt 25 Ministern nur gut halb so groß wie sonst, besteht aus anerkannten, politisch nicht »vorbelasteten« Persönlichkeiten. Etliche Posten, darunter das Außenministerium, sind aber noch unbesetzt. Das Team steht vor der Aufgabe, schon vor den Neuwahlen wichtige Reformschritte anzugehen. Genau dies ist die Erwartungshaltung der empörten Jugend, die in den viertägigen Unruhen einen hohen Blutzoll für diese Chance bezahlt hat.

Stärke und Schwäche zugleich sind dabei, dass der Protest nicht formal organisiert war. Zwar hatten studentische Gruppen zur Beteiligung aufgerufen, doch fehlt der Massenbewegung eine klare Führung. Selbst jene Vertreter, die aktuell in die Gespräche zur Formation der Übergangsregierung eingebunden sind, können nicht beanspruchen, für alle zu sprechen.

Überdies ist Nepal neben dem traditionellen Balanceakt zwischen Indien und China auf die Unterstützung weiterer Kräfte wie EU, Japan (einer der größten Entwicklungspartner des Landes) und der USA beim Sichern des Neuanfangs angewiesen, wie Experten mahnen – ohne dass dies als externe Einmischung ankommt. Erste Eindrücke dieser Art gibt es schon: »Die Art der Gratulationen, die Karki erhalten hat, bis hin zum Dalai Lama, hat öffentliche Zweifel ausgelöst«, warnte Mrigendra Bahadur Karki, Direktor des Center for Nepal and South Asian Studies (CNAS) an der Tribhuvan University, in den Medien. Wirtschaftlich sei bedeutsam, dass vor Beginn der touristischen Hochsaison ab November wieder verlässlich Ruhe und Stabilität einkehren, so Nishchal N. Pandey, Chef des Thinktanks Centre for South Asian Studies (CSAS), gegenüber der »Kathmandu Post«. Sushila Karki ist auf vielen Ebenen gefordert.

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