OB-Wahl in Freiberg: »Letztlich muss man sich selbst engagieren«

Christian Pudack will Rathauschef der sächsischen Bergstadt werden, den Einfluss der AfD verhindern – und gerät dafür ins Fadenkreuz

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.
Im sächsischen Freiberg wird am Sonntag ein neuer Oberbürgermeister gewählt.
Im sächsischen Freiberg wird am Sonntag ein neuer Oberbürgermeister gewählt.

Bei »Pivo mit Pudack« geht es nicht um den Klimawandel. Christian Pudack, der sich an diesem Sonntag im sächsischen Freiberg um das Amt des Oberbürgermeisters bewirbt, hat zum Gespräch in die »Stadtwirtschaft« eingeladen. Rund ein Dutzend Freiberger sind in das Lokal gekommen, in dem Knödel und Gulasch auf der Speisekarte stehen, die Räume nach »böhmischen Dörfern« benannt sind und das Bier auf Tschechisch als »Pivo« angepriesen wird, was die hübsche Alliteration im Titel der Veranstaltung ermöglicht. Der Kandidat hat auch schon zum »Picknick mit Pudack« eingeladen, aber an diesem Abend sitzt man lieber drin. Vor der Tür regnet es Bindfäden, und herbstliche Kühle kriecht durch die Gassen der Altstadt.

Die ist saniert und voller Lokale und Geschäfte, aber »mit dem Bus kommt man nicht hin«, sagt einer von Pudacks Gästen. Stadtbusse sparen das Zentrum aus; ältere Bürger halten die langen Wege vom Einkauf in der Stadtmitte ab. Ohnehin sei es um den Nahverkehr nicht gut bestellt, sagt eine junge Frau. Sie ist für einen Job am Theater nach Freiberg gekommen und musste erst einmal den Führerschein machen, »weil ich hier sonst nicht mobil gewesen wäre«.

Als Pudacks vier Mitbewerber kürzlich im städtischen Festsaal Rede und Antwort standen, ging es um andere Fragen, deren Bezug zur Stadtpolitik sich weniger erschloss. Der Verein »Freiberger Forum« hatte eingeladen. Die anwesenden Kandidaten – CDU-Mann Steve Ittershagen, der von den Freien Wählern Mittelsachsen unterstützte Philipp Preißler, AfD-Kandidat Jens Uhlemann und der Einzelbewerber Stefan Krinke – sollten durch Schildchen mit »Ja« oder »Nein« signalisieren, was sie von den angesprochenen Themen halten. Zuwanderung regulieren? Viermal Ja. Gendern? Viermal Nein. Waffen liefern, um Kriege zu beenden? Viermal Nein. Mehr als zwei Geschlechter akzeptieren? Viermal Nein. Manchmal schien ein Kandidat auszuscheren – und korrigierte auf Nachfrage der Moderatorin sein Votum flugs. Diese äußerte später das »Gefühl, dass es hier eine sehr große Einigkeit gibt«. Das galt auch für den Klimawandel. Den habe es »in der Erdgeschichte immer gegeben«, sagte CDU-Mann Ittershagen; es sei »abenteuerlich, ihn rein auf den Menschen zurückzuführen«.

Pudack hatte so etwas befürchtet, als er im Juni kurz vor dem Bewerbungsschluss für den Job des Verwaltungschefs der 41 500-Einwohner-Stadt mit seiner Frau auf der Couch saß und die bis dahin bekannten Kandidaturen Revue passieren ließ. »Uns ist wegen des Mangels an progressiven Ideen angst und bange geworden«, sagt er. Um die Nachfolge des bisherigen Oberbürgermeisters Sven Krüger, der die Stadt seit 2015 geführt hatte und im Mai zum Landrat von Mittelsachsen gewählt worden war, bewarben sich ausschließlich Vertreter des konservativ-rechten bis rechtsextremen Lagers. »Da war«, sagt Pudack, »keiner dabei, dem wir guten Gewissens unsere Stimme hätten geben können.«

Einerseits überrascht das einseitige Bewerberfeld nicht in einer Stadt, deren Kommunalpolitik selbst für sächsische Verhältnisse besonders ist. Nicht ungewöhnlich ist, dass die AfD mittlerweile stärkste Kraft ist. Bei der Wahl des Stadtrats kam sie im Juni 2024 auf 27,6 Prozent und stellt als stärkste Fraktion neun Abgeordnete. Nach vielen Gesprächen an Wahlständen hat Pudack den Eindruck, dass die in Sachsen als »gesichert rechtsextrem« eingestufte Partei in Freiberg »selbst einen Rettich aufstellen könnte« und gewählt werden würde. Ihr Bewerber Jens Uhlemann, ein Gastwirt, verbreitet Verschwörungstheorien, bezeichnete die Corona-Impfung als »Zwangs-Gentherapie« und hält Russland mit Blick auf den Krieg in der Ukraine zugute, es habe wegen anhaltender »Provokationen« der Nato »keine andere Möglichkeit« mehr gehabt, als »ins Geschehen einzugreifen«.

So weit, so gewöhnlich in Sachsen. Allerdings biedert sich die CDU hier offener als anderswo bei der Konkurrenz von Rechtsaußen an. In einem »Freiberger Appell« wurden schon 2019 die von der Bundespartei strikt abgelehnte Öffnung zur AfD und der Rücktritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert. Zu den Freiberger Protagonisten gehörten neben Ex-Baubürgermeister Holger Reuter und der damaligen Bundestagsabgeordneten Veronika Bellmann auch Ittershagen. Kritisiert wurde Merkel vor allem für ihre Flüchtlingspolitik, gegen die in Freiberg auch die Verwaltung opponierte. Rathauschef Krüger, damals noch SPD-Mitglied, erregte 2017 bundesweites Aufsehen, als er Merkel eine Rechnung für Kosten der Integration schickte. Im Jahr darauf beschloss der Stadtrat gar einen Zuzugsstopp.

Zwei Jahre später brach die Corona-Pandemie aus. Pudack, der kurz zuvor für den Job als kaufmännischer Leiter eines kommunalen Krankenhauses nach Freiberg gezogen war, erinnert sich daran als eine Zeit, als in der Klinik in zwei Monaten so viele Menschen starben wie sonst im ganzen Jahr. Derweil behaupteten vor dem Krankenhaus Demonstranten, Corona sei nur eine Inszenierung. Deren »Montagsspaziergänge« gibt es in Freiberg bis heute. Auch beim »Freiberger Forum« wird auf eine »Corona-Aufarbeitung« gedrängt, womit in der Regel gemeint ist, Schuldige zu benennen. Im Wahlkampf, sagt Pudack, »erzählen mir ganz viele Leute, sie seien in der Pandemie ihrer Grundrechte beraubt worden und hätten sie bis heute nicht wieder«.

»Es gibt auch in einer Stadt wie Freiberg Anlass zum Optimismus und keine Notwendigkeit, ständig in Sack und Asche zu gehen.«

Christian Pudack OB-Kandidat

Zu den Freiberger Besonderheiten gehört schließlich auch eine selbst für ostdeutsche Verhältnisse auffällige Schieflage im Verhältnis zu Russland. Der Umstand, dass im 18. Jahrhundert der russische Gelehrte Michail Lomonossow in der sächsischen Stadt studierte, mündete später in engen Beziehungen der TU Bergakademie zu dortigen Forschungseinrichtungen. Heute lädt das »Freiberger Forum« ungeachtet des Krieges in der Ukraine einen russischen Diplomaten zum Vortrag, und Rathauschef Krüger hielt im Sommer 2023 eine umstrittene Rede bei einem Opernball in Sankt Petersburg. Preißler, der seit 2016 sein Büro leitet und ihm jetzt im Amt nachfolgen will, begleitete ihn.

Das ist die eine Seite der Freiberger Kommunalpolitik. Es gibt aber auch eine andere. Es gibt Menschen wie Pudack, denen der von AfD & Co. geschürte Verdruss über die Zustände in Stadt und Staat mächtig gegen den Strich geht; die der Auffassung sind, es gebe auch in einer ostdeutschen Kleinstadt wie Freiberg »Anlass für Optimismus« und keine Notwendigkeit, »permanent in Sack und Asche zu gehen«; die für einen »angstfreien Umgang mit Veränderung« plädieren und die Meinung vertreten, Freiberg solle Zuzug nicht begrenzen, sondern Neubürger vielmehr mit offenen Armen willkommen heißen. »Nur als liberaler Leuchtturm können wir der Demografie trotzen«, sagt er in Anspielung auf das hohe Durchschnittsalter der Stadtbevölkerung.

Eine derart weltoffene Haltung fand er freilich bei keinem der zunächst nominierten Kandidaten. Stattdessen dominiert Provinzialismus. Preißler wirbt dafür, man müsse »unsere kulturellen Wurzeln und die regionale Identität bewahren«, Ittershagen spricht von einer »Freiberg-DNA«, die es für den Rathaus-Job brauche. Pudack fragte bei den Mitte-Links-Parteien, ob sie nicht gedächten, einen progressiveren Bewerber, womöglich gar eine Bewerberin ins Rennen zu schicken. Die einhellige Antwort bei Grünen und SPD, bei der Linken sowie bei der Initiative »Freiberg für alle«, die seit Jahren für eine weltoffene Stadt aktiv ist und sich bei der Kommunalwahl 2024 angesichts der drohenden rechten Dominanz im Stadtrat erstmals als Wählervereinigung zur Wahl stellte: Man habe viele Gespräche geführt – und viele Absagen kassiert. Niemand war bereit, für das progressive Lager, das zusammen knapp ein Drittel der Stadträte stellt, bei der Wahl des Rathauschefs den Hut in den Ring zu werfen. Pudack sah zwei Möglichkeiten: die sieben Amtsjahre des neuen OB auf der Couch absitzen und sich ärgern – oder selbst aktiv werden. »Letztlich muss man sich auch selbst engagieren«, sagte er sich und hob die Hand: »Keine 48 Stunden später hatten wir alle im Boot.«

Seither betreiben Pudack und seine Unterstützer Wahlkampf. Sie klingeln an Haustüren, sprechen Bürger in der Fußgängerzone an, nehmen an Debatten mit den anderen Bewerbern teil – außer an der beim »Freiberger Forum«. Der Verein sei dafür bekannt, dass er »maximal polarisiert, Personen des öffentlichen Lebens diskreditiert und Fakten verdreht«, begründete Pudack in einer Videobotschaft seine Absage. Ansonsten versucht er, mit so vielen Menschen, Initiativen und Institutionen wie möglich ins Gespräch zu kommen. Dabei macht er freilich eine merkwürdige Erfahrung. In Einrichtungen, die von städtischer Förderung abhängig sind, werde der Bewerber des Mitte-Links-Lagers, anders als die Kandidaten von CDU und Freien Wählern, regelmäßig gebeten, von einem Besuch Abstand zu nehmen. Dahinter steht vermutlich die Sorge, eine »falsche« politische Positionierung könne sich negativ auf die Förderung auswirken. Pudack spricht von »Ängstlichkeit« und findet es um so verstörender, dass diese »offenbar niemand mehr als Problem wahrnimmt«.

Christian Pudack will aus dem Krankenhaus ins Rathaus wechseln.
Christian Pudack will aus dem Krankenhaus ins Rathaus wechseln.
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Auch andere Aspekte des Wahlkampfes findet er irritierend, allen voran den Umstand, dass ein entscheidendes Thema in der öffentlichen Debatte ausgespart bleibt: ein möglicher Einfluss der AfD auf die Rathauspolitik auch für den Fall, dass deren Bewerber die Wahl nicht gewinnt. Pudack selbst hat der AfD eine Absage erteilt, die anderen Kandidaten äußern sich nicht – und werden auch nicht gefragt. In der Lokalpresse sollten sie erklären, ob sie einen »Bergstadtkönig« für sinnvoll halten oder mit welchen Emojis sie Freiberg darstellen würden: »Aber keiner fragt, wie der nächste Oberbürgermeister seine Mehrheiten zu organisieren gedenkt.« Pudack räumt ein, dass die Programme der Kandidaten in vielen Punkten nicht weit auseinander lägen: »Alle wollen bessere Radwege, mehr Grün in der Stadt und mehr Kultur« – außer dass die AfD all das nur geborenen Deutschen zubillige, fügt er sarkastisch an. Zu der für die Stadt entscheidenden Frage aber, ob die extreme Rechte an der Macht beteiligt werde, herrsche »dröhnende Stille«.

Das Gleiche gilt für einen Vorfall, der mutmaßlich in Pudacks expliziter Absage an die AfD begründet ist und der ihm am Abend in der Stadtwirtschaft noch deutlich zu schaffen macht. Tags zuvor waren nahe seiner Wohnung und auf seinem Arbeitsweg Wahlplakate mit seinem Konterfei nicht nur mit Hakenkreuzen versehen worden, sondern auch mit Fadenkreuzen und dem Wort »Kopfschuß«. Pudack ist schockiert, dass ein progressives Programm und klare Worte zur AfD in »Tötungsaufrufen« münden. Mindestens ebenso schockiert ist er freilich, wie wenig überrascht selbst viele seiner Unterstützer sind: »Wenn es lapidar heißt, damit müsse man eben rechnen, haben wir ein sehr großes und tiefsitzendes Problem.«

Abschrecken lassen, sagt Pudack, wolle er sich »dennoch« nicht. Hoffnung hat ihm und seinen Unterstützern die OB-Wahl in Meißen gemacht, wo sich Anfang September ein ebenfalls von einem breiten Bündnis unterstützter Kandidat bereits im ersten Wahlgang gegen den hoch gehandelten AfD-Bewerber durchsetzte. »Das zeigt, dass ein solches Bündnis in der Kommunalpolitik funktionieren kann«, sagt Pudack. Vielleicht gilt das ja auch für Freiberg.

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