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»While The Green Grass Grows«: Schule der Geduld
In »While The Green Grass Grows« führt der Regisseur Peter Mettler ein filmisches Tagebuch, das um das Sterben seiner Eltern kreist
Eine Frau sagt – nicht klagend, eher nachdenklich – in die Kamera: »Ich glaube, ich werde alt.« Sie finde das schlimm, denn sie habe noch vieles zu tun. Eigentlich sollte sie jung sein, findet sie. Doch viele Geburtstage werde sie wohl nicht mehr feiern, einen vielleicht. Erst nach und nach erfahren wir, dass dies die Mutter des Filmemachers Peter Mettler ist, der hier ein filmisches Tagebuch führt, das um das Sterben seiner Eltern kreist.
Dafür nimmt er sich viel Zeit. Fertig sind der erste und der sechste Teil, zusammen sind das bereits fast drei Stunden. Der zweite bis fünfte Teil sollen folgen. Was für eine Unternehmung, einen Film zu machen, in dem es um die unerbittlich ablaufende Lebenszeit geht – angesichts der Weltzeit, die sich davon unbeeindruckt zeigt. Eine existenzielle Meditation, die zugleich die Mittel des Films auslotet, etwas über diesen Zusammenhang zu erzählen. Seinen Anspruch formuliert Mettler so: »Wie kann ich mich als Filmemacher auf einen Tanz mit der sich entfaltenden Erfahrung des Lebens einlassen, filmen, während das Leben passiert?«
Dieser Film lotet tief, ohne jedoch dabei den Charakter zufälliger Fragmente, die hier zusammenfinden, verleugnen zu wollen. Das erinnert an Thomas Heises dokumentarisches Selbstverständnis in »Material« und Jean-Luc Godards Alterswerk »Bildbuch«, in dem etwas nur kurz aufblitzt, um dann wieder von etwas anderem verdrängt oder überlagert zu werden. Funktioniert unsere Erinnerung vielleicht genauso – scheinbar unlogisch und doch einem uns verborgenen Prinzip folgend?
Die ersten Einstellungen des Films sind auf das Jahr 2015 datiert, die letzten, die mit dem Tod des Vaters enden, auf 2023. Ein Leben zwischen den Appenzeller Alpen und Toronto in Kanada. Immer bezieht sich Mettler auf geradezu archetypische Situationen, in denen die Zeit stillzustehen scheint: Das Wasser der Flüsse etwa, das nicht geradlinig voranfließt, sondern sich mäandernd seinen Weg bahnt, dabei Strudel und Wellen bildet, manchmal auch stillzustehen scheint, um dann wieder aufschäumend in einem Wasserfall in die Tiefe zu stürzen – um schließlich weiterzufließen, als wäre nichts geschehen. Ein Sinnbild für unser Leben, das wir doch gewohnt sind, als einen geradlinigen Prozess von der Geburt bis zum Tod aufzufassen?
Zurück zur alten Frau des Anfangs, die ihrem Sohn etwas später mitteilt, dass ihr plötzlich schwindlig geworden und sie gestürzt sei. Nun gehe es ihr aber wieder besser. Mit einer in ihrer Situation unpassend erscheinenden Euphorie sagt sie dann: »Und ich gebe wieder Gas und gehe irgendwo tanzen.« Was ist Jugend, was ist Alter?
Peter Mettler probt das mythische Erzählen im Film. Keine Kommentare, kaum Erklärungen, dafür ein langer stiller Fluss der Bilder.
Für diesen Film braucht man Zeit, insofern steht er quer zu jedem eiligen Zeitgeist. Keine schnellen Informationen bekommen wir hier, erst nach und nach setzt sich die unverwechselbare Lebensgeschichte der Eltern des Regisseurs zusammen wie ein Puzzle, das aber unvollendet bleiben muss. Peter Mettler probt das mythische Erzählen im Film. Keine Kommentare, kaum Erklärungen, dafür ein langer stiller Fluss der Bilder, der den Zuschauer langsam, sehr langsam in die Geschichte hineinzieht. Ob das in jeder Szene gelungen ist, sei dahin gestellt.
Mettler nutzt nicht nur Gespräche und Naturbilder, er schöpft auch aus einem reichen experimentellen Audio- und Filmarchiv. So sehen wir gleich zu Beginn blau schimmernde Medusen auf rötlich-violettem Hintergrund, der hier das Wasser ist – ein Urgrund.
Damit wird klar, dass »Während das grüne Gras wächst«, so der übersetzte Filmtitel, nicht bloß auf Langsamkeit und Stille setzt, sondern auch die eigenen filmischen Mittel samt Computeranimation einbezieht – sodass wir es hier mit einem geradezu bildkünstlerischen Gesamtkunstwerk zu tun haben, bei dem sich der Filmemacher als fragender Part immer wieder selbst zu erkennen gibt. Meist sachlich, manchmal aber auch melancholisch oder ironisch eine Distanz zum Erzählten erzeugend.
Gibt es denn nur eine Richtung, in der die Zeit fließt, wie ein Fluss von der Quelle ins Meer, oder gibt es auch Momente der Stillstellung, gar Umkehrung der Zeit? Die Sehnsucht nach einem Jungbrunnen taucht im Alter häufig auf: Sollte man nicht doch lieber wieder jünger werden als immer nur älter und hinfälliger? Diese Frage schwingt mit – denn wenn wir an die Kindheit zurückdenken, sind wir dann nicht auch wieder irgendwie in dieser Zeit beheimatet, für Momente wieder Kinder?
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Die Sehnsüchte, die uns durch unser Leben begleiten, sind uralt, das heißt, sie kommen von weit her und gehen über uns hinaus in die Zukunft. Wir sind mittendrin, zwischen Gestern und Heute und doch allein im Hier und Jetzt, haben immer nur den Augenblick. Bestenfalls eröffnet uns dieser dann den Horizont. Und immer wieder ist da jene unbestimmte Sehnsucht nach einer Ferne, der wir uns selbst näher glauben. So wie einst Eichendorffs Taugenichts gen Italien wanderte, ohne festes Ziel, in der Hoffnung, dass es woanders immer noch schöner sei als da, wo man gerade ist. Eine Illusion, aber eine, die uns zeitlebens in Bewegung hält.
»Jeder will Spuren hinterlassen«, hören wir. Vor allem sind es Gedächtnisspuren. Jedes Mal, wenn wir an unsere Eltern denken, sind wir wieder Kinder. Irgendwann haben sie uns verlassen, wir teilen die gelebte Zeit nicht mehr mit ihnen. Auch darum geht es Mettler. Sein Vater kommt 90-jährig, nach dem Tod der Mutter, aus Kanada zurück in die Schweiz. Sie gehen zusammen in den Alpen wandern, sprechen über die Kindheitserfahrungen des Vaters, seine Erinnerungen an eine Zeit, die lange zurückliegt. Er hat die Asche seiner Frau mitgebracht, diese streuen sie in einen Bergbach. Von dort soll sie ins Meer wandern und dann vielleicht als Regen nach Kanada zurückkehren. Was man sich so zusammenträumt, wenn man seine Lebenskoordinaten verloren hat. Da mischt sich Trauer über das Verlorene mit der Freude des Zusammenseins.
Wann erzählt man davon; wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen, Rechenschaft zu geben über seine Lebensreise? Ein Jahr später stirbt auch der Vater. Mit unerbittlicher Härte gegen sich selbst dokumentiert der Sohn den qualvollen Prozess des Sterbens bis zur letzten Minute und darüber hinaus.
Inzwischen ist auch die Corona-Pandemie über die Welt hereingebrochen, eine unbekannte Bedrohung, die Angst macht. Darüber wird Mettler dann vermutlich in den noch ausstehenden vier Teilen seines sehenswerten filmischen Essays Auskunft geben, der vor allem eins ist: eine Schule der Geduld inmitten der großen Ungeduld, das Leben nicht zu verpassen. Eine Frage des richtigen Tempos, des angemessenen Rhythmus – aber wer kennt diesen schon?
»While The Green Grass Grows« (Parts 1+6), Schweiz/Kanada 2023. Regie und Buch: Peter Mettler. 166 Min. Kinostart: 2.10.
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