Vertrag der EU mit Marokko: Über die Köpfe der Sahrauis hinweg

Europäische Kommission plant erneut Handelsabkommen mit Marokko, Projekte in der von dem Land annektierten Westsahara inklusive

  • York Schaefer
  • Lesedauer: 4 Min.
Vertriebene Sahrauis in Camp Dakhla (Algerien) – benannt nach der von Marokko besetzten sahrauischen Hafenstadt
Vertriebene Sahrauis in Camp Dakhla (Algerien) – benannt nach der von Marokko besetzten sahrauischen Hafenstadt

Bei der Europäischen Kommission scheint man es mit der Einhaltung der EU-Rechtsprechung weiterhin nicht so genau zu nehmen. Zum wiederholten Mal ignoriert die höchste EU-Instanz Urteile, die mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der sahrauischen Bevölkerung in der von Marokko besetzten Westsahara gefällt wurden. Laut einem der Nichtregierungsorganisation Western Sahara Ressource Watch (WSRW) zugespielten aktuellen Dokument hat die Kommission in nur fünf Tagen stillschweigend den Entwurf für ein neues Handelsabkommen zwischen der EU und dem Königreich Marokko vorgelegt. Bereits an diesem Mittwoch sollen die Mitgliedsstaaten darüber im EU-Rat abstimmen.

»Dieses Dokument ist äußerst beunruhigend. Die Kommission hat sich dafür entschieden, heimlich mit Marokko zu verhandeln, die Sahrauis auszuschließen und ein Abkommen durchzusetzen, das deren Recht auf Selbstbestimmung mit Füßen tritt«, kritisiert Sara Eyckmans von Western Sahara Resource Watch.

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Zum Hintergrund: Vor einem Jahr hob der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Anwendung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko aus dem Jahr 2019 mit Bezug auf die seit 50 Jahren völkerrechtswidrig besetzte Westsahara auf. Das in den besetzten Gebieten und in Geflüchtetencamps in Algerien lebende sahrauische Volk hatte keine Zustimmung zum Handel mit seinen natürlichen Ressourcen wie Fisch und Phosphat gegeben. Der Gerichtshof setzte der EU eine Frist von einem Jahr, um ihre Maßnahmen mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen. Diese Frist läuft am 4. Oktober ab.

Wichtigster Punkt in dem Entwurf für das neue Abkommen dürfte das Vorhaben sein, EU-Gelder in Infrastrukturprojekte in den besetzten Gebieten zu investieren, zum Beispiel in den Bereichen Energie, Bewässerung, Entsalzung und beim Kampf gegen Wüstenbildung. Auch Bildungs- und Kulturprogramme will die EU unterstützen. Zudem soll die humanitäre Hilfe für die Bewohner der sahrauischen Geflüchtetencamps in Algerien aufgestockt werden.

Mit den geplanten Projekten bezieht sich die Kommission auf das EuGH-Urteil von vor einem Jahr, das die Rechtswidrigkeit der Agrar- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in Bezug auf die Westsahara bestätigt hat. Dort hieß es allerdings auch, dass die Zustimmung der Sahrauis zur Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen nicht unbedingt explizit erfolgen muss, sondern in bestimmten Fällen »vermutet« werden kann – wenn daraus ein »präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil« für die Sahrauis entstehe.  

Western Sahara Ressource Watch sieht diese »Vorteile« allerdings vor allem für Marokko. »Die geplanten Projekte stehen ganz oben auf dessen wirtschaftlicher Wunschliste«, erklärt die NGO in einer Pressemitteilung. Man befürchtet, dass dadurch neue Kontroversen entstehen.

Fakt ist, dass die Westsahara bei den Vereinten Nationen als »Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung« gelistet ist. Mehrere vorherige Urteile europäischer Gerichte haben festgestellt, dass Marokko keinerlei Souveränität über die Westsahara besitzt. Trotzdem haben in den vergangenen Jahren immer mehr Länder wie die USA, Spanien, Frankreich und England die Politik des Königreiches gegenüber der Westsahara anerkannt und unterstützen den Autonomieplan aus dem Jahr 2007.

Für Nadjat Hamdi von der Befreiungsbewegung Frente Polisario, der legitimen Vertreterung des sahrauischen Volkes, geht es vor allem um die Rechtsprechung der europäischen Gerichte. »Marokko besitzt keine rechtliche Befugnis, internationale Abkommen abzuschließen, die auf die Westsahara Anwendung finden.« 

Auch das Tempo und die Art und Weise wie die EU-Kommission mit Marokko verhandelt hat, stößt bei Hamdi und den Aktivisten von Western Sahara Ressource Watch auf Kritik. Laut WSRW wurde der politisch brisante Entwurf in nur fünf Tagen ausgehandelt. Dabei nehme ein solcher Prozess normalerweise mehrere Monate in Anspruch. Hier stelle sich die Frage, ob die Kommission bereits vor Erhalt eines rechtlichen Mandats durch die Mitgliedsstaaten informell Verhandlungen mit Marokko aufgenommen hatte.

»Der Text des Mandats ist bis letzte Woche nicht veröffentlicht worden, was den Eindruck erweckt, dass die Verhandlungen bewusst im Geheimen geführt werden.«

Nadjat Hamdi Frente Polisario

»Der Text des Mandats ist bis letzte Woche nicht veröffentlicht worden, was den Eindruck erweckt, dass die Verhandlungen bewusst im Geheimen geführt werden«, befürchtet Nadjat Hamdi. Zudem hätten die EU-Mitgliedsstaaten nur wenige Tage Zeit für eine Prüfung der Dokumente auf Rechtmäßigkeit und die Einhaltung von Menschenrechten, so WSRW. 

»Die EU-Mitgliedstaaten müssen ausreichend Zeit erhalten, um Einspruch zu erheben, wenn die Kommission wie hier versucht, ihre Verpflichtungen zu umgehen«, betont Aktivistin Sara Eyckmans von Western Sahara Resource Watch.

Die Pressestelle der EU-Kommission in Deutschland hat auf eine nd-Anfrage zu dem geplanten Abkommen nicht reagiert.

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