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Der Look im Lockdown
In den USA wird die »zweiten Chance« für alle Gelegenheiten glorifiziert
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
während Sie am 3. die Wiedervereinigung gefeiert haben, heißt es bei uns in den USA alljährlich auf allen Social-Media-Kanälen »On October third, he asked me what day it was«, ein Zitat aus dem Teenie-Kultfilm »Mean Girls«, welcher zugegebenermaßen witzig war, aber nach 21 Jahren doch ziemlich abgewetzt wirkt. 2011 gab’s einen zweiten Teil der »Gemeinen Mädels«, 2018 folgte ein Musical und 2024 seine filmische Rückadaption – so schloss sich der Kreis der Mittelmäßigkeit. Die Hauptdarstellerin dieses ursprünglichen Hits, Lindsay Lohan, feiert gerade ihr Comeback, mit einem – was sonst – Fortsetzungsfilm!
Der heißt »Freakier Friday« und knüpft an Lohans anderen großen Filmhit »Freaky Friday« an, die Kritiken sind gemischt. Aber Lohan wird ohnehin nicht für ihr Talent bejubelt, sondern für ihren umwerfenden Look (Hallo 2025, das Jahr 2005 hat angerufen und will seine Obsession mit dem Aussehen zurück!). Zwei Jahrzehnte lang sahen wir dabei zu, wie Lohan besoffen und bekifft aus Nacht- und Day Clubs stolperte, die Haut mit Solarium und Tabak malträtiert, das Gesicht durch Alk und Filler aufgedunsen, die Extensions von der Rübe rutschend (ich bin auch nur ehemalige Konsumentin der Nullerjahre-Magazine, sorry!).
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Nun hat Lindsay allen Drogen abgeschworen, nach unzähligen gescheiterten Verlobungen und finanziellen Krisen reich geheiratet, entbunden und auch noch krass abgenommen (trotz und nach der Geburt!); dabei das Gesicht auch noch so exzessiv generalüberholt, dass es scheint, jemand hätte ihre halbiert-modellierte Visage mit frischer Babyhaut überzogen.
Man wäre beinahe versucht, an Magie zu glauben, wären da nicht noch andere, viel ältere Stars, die unlängst, ähnlich wie Lohan, in eine bessere Version ihrer selbst vor 20 Jahren verwandelt wurden: Kris Jenner, Demi Moore, Brad Pitt, Tom Cruise … Ihre kunstfertigen Schönheitschirurgen werden in den Medien gepriesen, deren minderwertige Kollegen erklären auf Youtube, was wohl an wem, wie vorgenommen wurde (brow lift, upper bleph, lower bleph, deep plane face lift, neck lift). Die Amis lieben Comebacks: Das abgehalfterte Idol ist geläutert, gesund und vor allem gutaussehend, ganz egal, ob die ersten zwei Adjektive tatsächlich zutreffen – das letzte zählt. Man munkelt, dass die neuen Superstar-Facelifts an die 100 000 Dollar kosten. Ärmere und gewöhnlichere Amerikaner*innen fliegen für solche Prozeduren nun nach Guadalajara und werden daheim nicht mehr wiedererkannt.
Comebacks, Remakes und Spin-offs sind überall im amerikanischen Unterhaltungssektor zu beobachten. Lohans Kollegin und Pop-Sängerin Hilary Duff kündigte nach zehn Jahren ein musikalisches Comeback an, Filme wie »Superman« oder »Schneewittchen« werden remaked, »Avatar« und »Alien« gespinoffed. Dan Brown dominiert mal wieder die New-York-Times-Bestsellerliste mit seinen literarischen Spin-offs – schlimmer ist wohl nur Charlie Sheens neue Comeback-Biografie (Platz 4 in Sachbüchern).
Bei all diesem Fokus auf Äußerlichkeiten und der Glorifizierung der »zweiten Chance« (in vielen Fällen auch der 100.) verlieren die Inhalte immer mehr an Bedeutung. So werden zum Beispiel Netflix-Dokumentationen neuerdings derart gedreht (langsam, mit Wiederholungen), dass man während ihrer Durchsicht auf dem Handy scrollen kann. Traurig. Aber 43 Prozent der Unterdreißigjährigen nutzen Tiktok als primäre Nachrichtenquelle und verpassen so wenigstens nicht den nächsten Government Shutdown.
Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht durch all die bizarren Reglementarien und Schlupflöcher der US-Regierung steige: Electoral College, Filibuster, Lame Duck, Gerrymandering? Da bin ich verwirrter als bei den vielen Schönheits-OP-Titeln (und nein, ich habe mich noch nicht chirurgisch erneuern lassen, mit Betonung auf »noch«). Eines weiß ich jedoch mit Sicherheit – die Regierung komplett lahmzulegen, weil man sich nicht einigen kann, ist eine Lose-Lose-Situation für alle und verschwendet Milliarden. Aber da die Haushaltssperre alle paar Jahre wiederkommt, hat man sich fast an sie gewöhnt. Ein guter Zeitpunkt für die Politiker, sich operativ aufzuhübschen oder sonst wie neu zu erfinden. Vielleicht hilft’s ja.
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