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Modis »neuer Wohlfahrtismus«
In Indien übertreffen sich die Parteien mit großzügigen Wahlgeschenken
Man muss sich den indischen Premierminister als Weihnachtsmann vorstellen: Am Vorabend von Navratri, einer Festwoche, die – gefolgt von Dusshera und Diwali – die wichtigsten Feierlichkeiten im hinduistischen Kalender einläutet, verkündete Narendra Modi jüngst eine Senkung der Mehrwertsteuer auf zahlreiche Güter des täglichen Gebrauchs. Fortan sind Butter, Ketchup, vegetarische Pizza, Zahncreme, Rasierwasser, Spülmaschinen, Zement und andere Produkte zwischen drei und zwölf Prozent billiger.
»Ihre Ersparnisse werden steigen, und sie können leichter Dinge kaufen. Die Armen, die Mittelklasse, die neue Mittelklasse, die Jugend, Bauern, Frauen, Ladenbesitzer, Händler und Unternehmer werden enorm von diesem Sparfestival profitieren. In anderen Worten: Während dieser Feiertage wird das Herz aller mit Süße gefüllt sein«, so Modi in seiner 19-minütigen Ansprache an die Nation.
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Man kann sich denken, dass er das Füllhorn nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit zu den Feiertagen ausschüttet. Im November stehen Wahlen in Bihar an, einem der bevölkerungsreichsten und ärmsten indischen Bundesstaaten. »Premierminister Modi hat diese wichtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt getroffen«, sagt Ramdas Athawale, Staatsminister im Ministerium für Soziale Gerechtigkeit und Empowerment. »Wir werden (die Wahlen) in Bihar gewinnen.«
Athawale ist Gewerkschafter und gehört der Republican Party of India (A) an, einem winzigen Koalitionspartner von Modis hindu-nationalistischer Bharatiya Janata Partei (BJP). Die Partei hat ihre Wurzeln in der Scheduled Castes Federation des Dalit-Anwalts B.R. Ambedkar. Modi stammt selbst aus einer unteren Kaste und hat verstanden, dass Wahlen sich nicht mit Religion und Ideologie allein gewinnen lassen.
In Indien ordnen sich mehr als 60 Prozent der Bevölkerung einer unteren Kaste oder den Kastenlosen (Dalits) zu, womit sie Anspruch auf Reservierungen im Staatsdienst haben, und mehr als 800 Millionen Menschen beziehen subventionierte Nahrungsmittel unter dem National Food Security Act. Das zeigt: Brot-und-Butter-Themen sind hier wahlentscheidend.
»Das Gaszylinder-Programm des Premierministers«
Dieser Umstand hilft jenen Parteien, die einen Bundesstaat (mit)regieren – und ganz besonders der Bundesregierung in Neu-Delhi. Diese vermarktet ihre Programme meist unter dem Namen des Premierministers. Das »Gaszylinder-Programm des Premierministers« etwa stellt den unteren Einkommensgruppen gratis Gas zum Kochen zur Verfügung; die Gaszylinder ziert ein Foto Modis. Das »Wohnungsbauprogramm des Premierministers« hat seit 2016 25 Millionen neue Wohnungen auf dem Land gebaut. Eine davon gehört bald der fünfköpfigen Familie Bhallavi aus dem Bundesstaat Madhya Pradesh in Zentralindien. Sie hat über das Programm einen Zuschuss von 120 000 Rupien (etwa 1200 Euro) erhalten. »Das Leben ist hart«, sagt Herr Bhallavi, »aber ich bin der Regierung dankbar, dass ich nun mein erstes Haus bauen kann.«
Als erfolgreichstes Programm Modis aber gilt nach wie vor die Mission »Swachh Bharat« (Sauberes Indien), die durch den massenhaften Bau von Toiletten die offene Defäkation im Land bekämpfen soll. Seit Start des Programms 2014 wurden laut Regierung mehr als 100 Millionen Toiletten gebaut. Um das ehrgeizige Ziel zu erreichen, Indien bis Ende 2025 vollkommen frei von offener Defäkation zu machen, wurde in diesem Jahr das Hygiene-Programm »Free Sauchalay Yojana« aufgelegt, unter dem Familien, die noch keine Toilette besitzen, 12 000 Rupien (120 Euro) für den Bau erhalten.
Da Indiens Wirtschaft seit Jahren beständig wächst, haben in den vergangenen Jahren Sozialprogramme und sogenannte Revdis (Hindi für: Gratisangebote) ein bisher unbekanntes Ausmaß angenommen. »Die staatlichen Ausgaben für diese Gratisangebote liegen nach Schätzungen zwischen 0,1 und 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts«, sagt Ajay Dua, ehemaliger Staatssekretär im Handelsministerium. »Dabei geben die ärmeren Bundesstaaten mehr Geld aus, obwohl sie geringere Kapazitäten haben.«
»Es regnet Wohlfahrt«
Das hat seine eigene Logik, denn je mehr Wähler*innen auf den Staat angewiesen sind, desto wichtiger werden Wahlgeschenke. Deshalb versuchen die Parteien, sich dabei zu überbieten, wer die schönsten Geschenke zu verteilen hat. Dies führt zu einem Dschungel an Förderprogrammen, der kaum noch überschaubar ist. »Es regnet Wohlfahrt in Bihar«, titelte kürzlich die Zeitung »The Hindu«. Oft wissen die potenziell Anspruchsberechtigten noch nicht einmal von ihrem Glück.
Der Ministerpräsident von Bihar, Nitish Kumar von der Partei Janata Dal (United), der derzeit eine Koalitionsregierung mit Modis BJP anführt, hat deshalb angekündigt, dass Freiwillige, die auf den Dörfern Menschen der untersten Kasten und der indigenen Bevölkerung dabei helfen, ihre Ansprüche geltend zu machen, einen Zuschuss von 25 000 Rupien (250 Euro) für die Anschaffung eines Tablet-Computers erhalten. Außerdem wurden ihre Transport-Pauschale und die Pauschale für Bürobedarf erhöht.
Weitere Programme der Landesregierung von Bihar sind eine Pauschale von 10 000 Rupien (100 Euro) für den Kauf von Smartphones, um Kindern aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Einstieg in das Schulsystem zu erleichtern, Arbeitslosengeld für jugendliche Hochschulabsolventen in Höhe von 1000 Rupien im Monat, Kredite für Unternehmerinnen von bis zu 200 000 Rupien, eine Kleidungspauschale für Bauarbeiter*innen in Höhe von 5000 Rupien. Außerdem erhöhte die Regierung von Bihar die monatlichen Pensionen für Witwen und Behinderte um 700 Rupien.
Dabei ist es nicht so einfach zu unterscheiden, was diese »Gratisangebote« sind und was ein integraler Teil des von der indischen Verfassung garantierten Wohlfahrtstaates ist. Laut Präambel der Verfassung ist das Land eine »souveräne, sozialistische, säkulare, demokratische Republik«. Premierminister Modi legt Wert darauf zu betonen, dass seine Programme keineswegs Revdis, also Gratisangebote, seien. »Die Revdi-Kultur steht im Gegensatz zur Entwicklung unseres Landes«, sagte er kürzlich. »Leute, die diese Kultur unterstützen, werden niemals neue Schnellstraßen oder Flughäfen bauen.«
Gratisangebote und Wohlfahrtsprogramme seien voneinander zu unterscheiden, meint auch der ehemalige Oberste Richter DY Chandrachud. »Es muss eine Balance geben zwischen den Kosten für die Wirtschaft und der Wohlfahrt für die Menschen.« 2022 forderte er die Parteien auf, »bitte vor meiner Pensionierung« ein Konzept vorzulegen, wie das eine von dem anderen abzugrenzen sei. 2024 ging Chandrachud in den Ruhestand, aber die Diskussion hält an.
Kritik des »Wohlfahrtismus«
Nach Angaben von Modi hat seine Regierung seit 2014 bereits 34 Billionen Rupien, rund 340 Milliarden Euro, direkte Bargeldüberweisungen an Haushalte der unteren Einkommensgruppen ausgezahlt – das sind mehr als 30 Milliarden Euro pro Jahr. Der Politikwissenschaftler Devesh Kapur von der Johns Hopkins University in den USA spricht von einem »Virus der Barmitteltransfers« über Parteigrenzen und Staaten hinweg. Etwa 2000 Cash-Transfer-Programme gebe es inzwischen im Land. »Jede Partei in Indien weiß, dass Wohlfahrt für die Wähler zählt«, so Kapur.
Auch der Ökonom Arvind Subramanian, ehemaliger Wirtschaftsberater der Regierung, spricht von Modis »neuem Wohlfahrtismus«, der sich darauf konzentriere, private Ausgaben wie etwa den Toilettenbau zu fördern, statt öffentliche Güter wie Grundbildung und Gesundheitsfürsorge. »Die Bundesstaaten spielen mit dem Feuer«, warnt er. »Diese Programme haben sich zu dauerhaften Ansprüchen entwickelt. Ich weiß nicht, wo das enden soll.«
Dennoch kann Kapur der Entwicklung auch Positives abgewinnen. Die Kapazität des indischen Staates, Hunderte Millionen von Menschen zu erreichen, habe sich massiv erhöht. »In der letzten Dekade hat der Staat für 350 Millionen Menschen Bankkonten eröffnet, 80 Millionen Haushalte mit Gasanschlüssen ausgestattet und 100 Millionen Toiletten gebaut, die 600 Millionen Menschen erreichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der indische Staat inzwischen Input in Outputs verwandeln kann«, so Kapur. Mit anderen Worten: Die Regierung Modi liefert.
Ob das Geld immer sinnvoll angelegt ist, steht auf einem anderen Blatt. NK Singh, der Vorsitzende der 15. Finanzkommission Indiens, die über die Verteilung der Staatsfinanzen zwischen Zentral- und Landesregierungen wacht, bezeichnet die Gratisangebote als »fiskalisches Desaster«.
»In Wahrheit ist das Anhalten der Gratis-Kultur ein Zeichen dafür, dass unsere Wirtschaftspolitik es nicht schafft, einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen, der in menschliches Kapital investiert«, sagt die Ökonomin Yamini Aiyar vom Center for Policy Research (CPR), einem Think-Tank in Neu-Delhi.
In der Tat gibt Indien nur etwa drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsfürsorge aus, in den meisten Industrieländern sind es zwischen elf und zwölf Prozent. Für Bildung wendet Indien rund vier Prozent auf, was im internationalen Durchschnitt liegt. Aber beide Systeme, Gesundheit wie Bildung, sind hochgradig ineffizient.
»Keine Nation kann groß werden, wenn die Lebenschancen so vieler Bürger durch Mangelernährung, unangemessene Bildungschancen und Diskriminierung auf Basis des Geschlechts beschränkt werden«, heißt es im Wirtschaftsbericht der indischen Regierung von 2018. Doch mit dieser Erkenntnis lässt sich kein Wahlkampf machen.
»All dies braucht den Aufbau stabiler Institutionen, was harte Arbeit ist«, sagt Devesh Kapur. »Während vieles am Wohlfahrtismus lobenswert ist, muss man sich doch Sorgen machen, dass er auf Kosten des Aufbaus eines Systems geht, das wichtig ist für langfristige Produktivität und Wachstum.«
Sozialismus mag zwar in der indischen Verfassung stehen, aber nicht im Wahlprogramm der meisten Parteien. Für die hin und wieder geforderte Entfernung des Wortes aus der Präambel fehlt jedoch bisher die notwendige Mehrheit. »Im Laufe der Jahre hat sich Sozialismus zu einem weithin akzeptierten allgemeinen Konzept entwickelt, das als wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit für alle verstanden wird«, erläutert die Journalistin Neerja Chowdhury. Dabei sei Premierminister Narendra Modi mehr Sozialpolitiker als viele seiner Vorgänger – und nicht zuletzt darauf beruht seine anhaltende Popularität.
Britta Petersen leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi.
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