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»Wir alle haben Angst vor ICE«
Chicago ist ins Visier von Donald Trump geraten
Wenn Valeria Beamte der Einwanderungsbehörde ICE in ihrem Viertel in Chicago sieht, bläst sie in eine orangefarbene Trillerpfeife. Die 30-Jährige aus Ecuador lebt seit acht Jahren in Little Village – einem Viertel der Millionenstadt im US-Bundesstaat Illinois, das viele Menschen aus Lateinamerika beheimatet. Seit die Regierung von US-Präsident Donald Trump im vergangenen Monat einen Großeinsatz von der Behörde in Chicago veranlasst hat, habe sich dort viel verändert, erzählt Valeria.
Davor wäre in ihrem Viertel viel los gewesen, Leute hätten am Straßenrand Sachen verkauft. Jetzt trauten sich Erwachsene nicht mehr zum Einkaufen und manche Kinder nicht mehr in die Schule, sagt sie. Zu groß sei die Angst vor der Behörde ICE.
Ministerium: Hunderte bei ICE-Einsatz festgenommen
Die Einwanderungsbehörde ist auch für Abschiebungen zuständig und bekannt für Razzien mit teils vermummten Beamten. Ihre vor ein paar Wochen in Chicago gestartete »Operation Midway Blitz« soll sich nach Angaben des Heimatschutzministeriums gegen »kriminelle illegale Ausländer« richten.
Anfang des Monats verkündete das Ministerium, dass im Rahmen des Einsatzes mehr als 800 »illegale Ausländer« in Illinois festgenommen worden wären – darunter »die schlimmsten der schlimmsten Verbrecher«.
Videoaufnahmen von Razzien, die auch in anderen US-Städten stattfinden, zeigen, wie ICE-Beamte Migranten festnehmen und sie in unmarkierten Fahrzeugen abtransportieren. Dabei ist unklar, ob es sich bei den Festgenommenen um Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus handelt – oder um gefährliche Kriminelle, wie die US-Regierung es darstellt. Trump hatte im Wahlkampf angekündigt, die größte Abschiebungsaktion in der Geschichte der USA durchzuführen.
In den Vereinigten Staaten leben Schätzungen zufolge mehr als Zehn Millionen Menschen ohne gültige Papiere. Sie arbeiten hauptsächlich in Bereichen wie Landwirtschaft, Bau, Pflege und Gastronomie – oft unter prekären Bedingungen. Auch wenn sie in der Regel Steuern zahlen, sind sie von vielen staatlichen Leistungen ausgeschlossen. In Chicago leben besonders viele solcher Menschen in Little Village.
Obst- und Gemüseverkäufer hat weniger Kunden
Dort wird schnell klar: Das Vorgehen der Einwanderungsbehörde wirkt sich auf das Leben vieler Bewohner aus. Ein Obst- und Gemüseverkäufer aus Ecuador betreibt seinen Stand noch immer an der Haupteinkaufsstraße des Viertels, verdient aber deutlich weniger als zuvor. »Heute haben die Leute viel Angst rauszugehen«, sagt der ältere Mann, der anonym bleiben möchte. Die Zahl der Menschen, die bei ihm einkauften, habe sich halbiert. Die Leute würden sich Essen nach Hause liefern lassen. »Wir alle haben Angst vor ICE, wir alle.«
Beamte der Behörde würden Leute packen und auf den Boden reißen, bevor sie überhaupt eine Chance hätten, sich auszuweisen, sagt der Verkäufer und schiebt nach: »Als wärst du ein Verbrecher«.
Ein paar Meter von ihm entfernt steht Raúl, ein Amerikaner, dessen Großeltern aus Mexiko in die USA kamen. Den Leuten mache es Angst, dass ICE-Beamte ihre Gesichter vermummt hätten, berichtet er. Sie wüssten nicht, ob es wirklich Bundesbeamte seien – es könnte irgendwer sein, sagt der 43-Jährige.
Bewohner Chicagos organisieren sich gegen ICE
Um sich gegen das Vorgehen zu wehren und sich gegenseitig zu helfen, setzen die Menschen in Chicago nicht nur auf Pfeifen. In sozialen Medien teilen sie Informationen, wo ICE-Beamte gesehen wurden. In Little Village kleben außerdem an vielen Straßenlaternen Zettel mit Tipps auf Spanisch, wie man sich verhalten soll, wenn man ICE-Aktivitäten sieht: »Filme, wenn es sicher ist«, steht da etwa oder die Hotline einer Organisation für Rechte von Migranten und Geflüchteten.
Migranten, die im Rahmen des Großeinsatzes festgenommen werden, kommen nach örtlichen Angaben zunächst in eine Einrichtung der Behörde in Broadview. Der Ort liegt knapp 20 Kilometer westlich von der Innenstadt Chicagos – und ist seit Wochen Schauplatz von Protesten gegen das Vorgehen der Behörde ICE.
Videoaufnahmen von lokalen TV-Sendern zeigen, dass Soldaten der Nationalgarde am Donnerstag auf dem Gelände der Einrichtung waren. Sie wurden von der US-Regierung in den Großraum Chicago beordert. Ihr offizieller Auftrag: Bundesbeamte – also etwa ICE-Mitarbeiter – sowie Bundeseigentum schützen.
Kritiker sehen in dem Vorgehen dagegen Anzeichen einer politisch motivierten Militarisierung des öffentlichen Raums. Sie befürchten, es könne dazu dienen, politische Gegner einzuschüchtern. Die US-Regierung hatte Soldaten zuvor bereits in andere demokratisch regierte Städte geschickt.
Gericht durchkreuzt Vorstoß der US-Regierung vorerst
In der Millionenmetropole Chicago klagten Bundesstaat und Stadt dagegen – und konnten am Donnerstag vor Gericht einen Erfolg verbuchen: Dieses untersagt der Regierung vorerst, die Nationalgarde unter Bundeskontrolle zu stellen und im Bundesstaat Illinois einzusetzen. Die einstweilige Verfügung gilt zunächst für zwei Wochen.
Ihr seien keine glaubwürdigen Beweise vorgelegt worden, dass es in Illinois zu einer angeblichen Rebellion gekommen sei, sagte die Richterin Medienberichten zufolge im Gerichtssaal.
»Kein Trump, kein ICE, keine Soldaten«
Der Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, feierte den Erfolg vor Gericht auf der Plattform X: »In Chicago gibt es keine Rebellion«, schrieb er. »Es sind einfach gute Menschen, die für das Richtige eintreten.«
In und um Chicago protestieren seit Wochen Menschen gegen die Razzien von ICE. »Kein Trump, kein ICE, keine Soldaten«, schallten jüngst Sprechchöre durch die Innenstadt. Am Freitagmorgen versammelten sich mehr als hundert Demonstranten rund um die ICE-Einrichtung in Broadview. Sie buhten laut und pfiffen, wenn ein Auto in die Einfahrt zur Einrichtung abbog. »Einwanderer sind willkommen, ICE ist es nicht!«, stand auf ihren Plakaten, und: »Liebe deinen Nachbarn«. Immer wieder tönte auch durch die Menge: »Chicago ist eine Einwandererstadt.« dpa/nd
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