Sanne Krug: Das Überschreiten der Verzweiflungsgrenze

Wie zwei junge Frauen im Sommer 1990 trampend den Westen erforschten

  • Sanne Krug
  • Lesedauer: 7 Min.
"Na, klar: Die Irren nach Irland!"
"Na, klar: Die Irren nach Irland!"

Wo wollt ihr denn hin?«, fragt die junge Fahrerin durch das geöffnete Beifahrerfenster.

»In den Westen«, antworte ich aufgeregt und gucke zu Vero rüber. Vero steht langsam auf.

»Ick fahr nach Hannover«, sagt die junge Frau.

»Ja, genau«, sage ich erleichtert.

Ich steige vorne ein, Vero mit dem Gepäck hinten.

Doris kommt vom Prenzlauer Berg und besucht jetzt ihre Freundin.

»Die kenn ick schon seit der Kindheit, is gleich im Herbst rüber. Und wo seid ihr her?«

Ich zeige auf Vero: »Berlin.« Und tippe auf mich: »Leipzig.«

Die ganze Schwere aus dem Osten war auf einmal weg, die Ratlosigkeit, der Sumpf, der Betrug, die Aggressionen.

»Echt jetze? Find ick jut, wie ihr det da jemacht habt ohne Jewalt, Wahnsinn, ej!«

Ja, echt Wahnsinn, was man in Berlin alles nicht mitkriegt, obwohl Hauptstadt der DDR und immer am Puls der Zeit. Das wird da auch ärmer, wie’s aussieht. Ich sage angriffslustig: »Ohne Gewalt war schon lang nich’ mehr. Auf der Demo musst du für die D-Mark sein, sonst gibt’s Dresche«, übertreibe ich ein bisschen.

Vero kneift mich warnend in die Schulter, aber Doris ist ganz einverstanden: »Jenau! Die Westmark war die Rettung! Jing ja jar nich’ anders, wa!«

»Ach ja?«, frage ich spitz.

»Na, wat macht ihr denn ohne? Fahrt wohl nich’ weit, wa?«, fragt Doris zurück.

»Irland«, sage ich.

Doris lacht: »Na, klar: Die Irren nach Irland!«

»Wir brauchen nicht viel«, lenkt Vero ein.

Ich frage mich, woher Vero weiß, was wir brauchen, bin aber dankbar, dass ihr Optimismus in den entscheidenden Situationen anscheinend abrufbar ist.

Doris beeindruckt das nicht. Sie erklärt uns ganz aufgeräumt: »Also, ick hab mir ja mein Jeld nich’ gleich abjeholt. Ick will noch wat davon haben.«

Sie kichert in sich hinein, als hätte sie einen geheimen Plan, der sie selbst überrascht, weil er so toll ist, dass sie die Übersicht komplett verloren hat. Ich werfe einen irritierten Blick über die Schulter zu Vero. Vero grinst und fragt ein bisschen spöttisch: »Ach, ja? Wat denn?«

Ich muss auch grinsen, weil Vero jetzt so schön wach ist.

Doris legt los, als hätte sie den Otto-Katalog auswendig gelernt, und das nicht nur im Klamottenbereich, sondern auch Küchengeräte, Gartenmöbel, Hobbyraumausrüstung, Innenarchitektur und Hausbau. Und als sie mit Otto fertig ist, fantasiert sie vom Westen, dem Glücksbringer und Traumerfüller.

Alles klingt so machbar und gut und rosig, dass wir aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommen. Das meint die doch nicht ernst, meint die das ernst, klingt so, gibt’s ja gar nicht, haha. Wir haben so viel Spaß, auch als Doris schon längst weg ist, wir lachen und lachen bis weit hinter Hannover und merken lange Zeit gar nicht, wie bergab es jetzt geht.

Wir stehen anderthalb Stunden an einer Raststätten-Ausfahrt, und nichts geht mehr. Entmutigt schlage ich vor, die Leute auf dem Parkplatz anzubetteln, bevor sie in ihre Autos einsteigen. Dann müssen sie uns in die Augen hinein sagen, dass sie uns hilflos zurücklassen und dem nächtlichen Erfrierungstod preisgeben wollen.

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»Das ist Nötigung. Das mache ich nicht«, sagt Vero.

»Hast du einen besseren Vorschlag?«, frage ich genervt.

Sie dreht sich weg und guckt einfach in eine andere Richtung. Eine Zumutung ist das, dass sie hier Leute anquatschen soll und auch noch im Westen, wo die meisten Wessis sind. Alles unbekannte Wesen. Unerhört, ja, aber Vero ist mit ihren langen blonden Haaren und überhaupt der Bringer, sprich Erfolgsquote im Gegensatz zu mir durch die Decke. Wenn sie nur wollte.

Eine weitere halbe Stunde halte ich noch an der Ausfahrt aus, dann bestehe ich auf Veros Mitwirkung. Widerwillig stapft sie zu unserem ersten Opfer, aber durch die Decke is nich. Mit hängenden Schultern kehrt sie zurück: »Vergiss es, das klappt nie.«

Sie setzt sich neben mich an den Parkplatzrand.

»Kein Wunder«, sage ich. »Du bist auf die zugestürzt, als wolltest du die ausrauben. Die hatten Panik in den Augen. Strahl mal ein bisschen Spaß aus, damit die auf die Idee kommen, dass sie was verpassen, wenn sie uns nicht mitnehmen.«

»Ach ja? Hast du denn Spaß?«, fragt Vero.

Das ist doch hier gar nicht die Frage, denke ich, halte aber lieber den Mund, denn Vero ist so schon eingeschnappt genug. Ich bin überrascht, wie schnell sie überfordert ist. Schön sein reicht jetzt nicht. Bisschen Aktion und bisschen Ideen wären gut. Aber Vero bockt.

Aber dann hält doch noch ein klappriger alter Kleinbus. Er fährt so weit in die Wiese hinter dem Schotter, dass ich denke, wenn wir uns mit unserem Schwergepäck da reinsetzen, sinkt er in den Boden und wir wühlen uns in die Erde, langsam, aber stetig, um nie wieder aus dem Dreck herauszukommen. Nach fünf Minuten sind wir mitsamt unserem Plunder drin in dem Bulli und bei einem fröhlichen Studenten, der leider wieder nur ein paar Kilometer, nämlich zwanzig, fährt, denn dann muss er runter von der 2, er will nur schnell nach Hameln zu seinem Kumpel und kann uns in Rehren absetzen.

»Wollt ihr nun mit oder wieder raus?«, fragt die Spaßkanone.

Jetzt haben wir schon so lange in dem bekloppten Nenndorf gestanden, dass es belanglos ist, wie es in Rehren aussieht, wir haben die Verzweiflungsgrenze überschritten, hinter der es sinnlos wird, egal, was man macht: hierbleiben sinnlos, nach Rehren fahren sinnlos. Amsterdam sinnvoll, aber nicht mehr heute. Also Rehren, aber Rehren war jetzt trotz Verzweiflungsgrenze der Vollschock. Schlimmer geht ja immer und hier: kein Auto bis zum Horizont. Zweiundvierzig Minuten lang.

Nach zweiundvierzig Minuten hält ein ganz kleiner Kleinwagen direkt neben uns, aus steigt eine blutjunge, sehr künstlerisch verkleidete, sehr nette Frau mit Turban und einer Million Ketten um den Hals, die scheppernd rasseln, als sie für unser Gepäck den Minikofferraum öffnet und uns freundlich anguckt: Auf geht’s, ich nehm’ euch mit in die nächste Stadt, denn jetzt auf der Autobahn, es wird ja Nacht, was wollt ihr denn da?! Ja, na klar, das ist besser, da haben wir gar nicht dran gedacht.

Nächste Stadt klingt gut, und ich sehe automatisch Düsseldorf vor meinem geistigen Auge, weil das die einzige Stadt ist, die ich im Westen kenne. Mein Bruder hatte mir gleich im Februar ein Flugticket geschickt. Ich sollte ihn besuchen in seiner neuen Heimat. Er holte mich mit dem Taxi ab, und wir fuhren erst einmal durch die Innenstadt zu seiner Wohnung in Bilk. Dann gingen wir in die Alte Liebe, abends in die Altstadt und zur Disco in den Ratinger Hof. Der Westen war toll, diese riesigen sauberen Häuser mit den protzigen Banken drin, die bunten Neonnächte, die Werbung an jeder Wand, die gut gekleideten Menschen, die Unbeschwertheit und all die Möglichkeiten. Am vorletzten Abend saßen wir in der Bolkerstraße beim Spanier, mein abgehauener Bruder war glücklich, und ich spürte so sicher wie noch nie, dass Blut dicker als Wasser ist. Wir waren eine Familie, nichts würde uns je wieder auseinanderbringen, aller vergangener Zwist war ausgestanden, und jetzt gehörten wir zusammen. Und in dieses überwältigende Gefühl hinein zog eine neue Selbstverständlichkeit. Warum sollte ich es denn nicht auch schaffen im Westen, wenn ich hier doch so lebensfroh sein konnte? Die ganze Schwere aus dem Osten war auf einmal weg, die Ratlosigkeit, der Sumpf, der Betrug, die Aggressionen. Nur noch Leichtigkeit. Aber mein Leben war in Leipzig, und Leichtigkeit hatte Flugangst.

Der Text ist ein Auszug aus Sanne Krugs Roman »Irrland«, in dem sie klug, lustig und nachdenklich von zwei abenteuerlustigen jungen Frauen in der Nachwendezeit erzählt (Sanne Krug: Irrland, delablå, br., 15€).

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