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Gaza nach dem Krieg: Wie viel Hoffnung ist erlaubt?
In der Vergangenheit hielt Frieden in Palästina nie lange. Zudem steht der Wiederaufbau vor hohen Hürden
Die Lebenden sind wieder zu Hause, die Freudentränen derweil einer tiefen Ernüchterung gewichen. Es werde für alle ein langer, schmerzhafter Weg werden, sagen jene Israelis und Palästinenser, die das alles schon durchgemacht haben. Es gibt viele davon. Zu viele. Wenigstens darin sind sich alle einig. Denn Bombenanschläge, Raketenangriffe, Militäreinsätze, Aufstände und Kriege hat es in den vergangenen 100 Jahren zwischen Jordan und Mittelmeer reichlich gegeben. Und damit auch Opfer auf beiden Seiten.
Rund 70 000 Menschen, davon 67 000 im Gazastreifen, wurden seit Oktober 2023 getötet. Nun ist dieser Krieg zu Ende gegangen, vorläufig, wahrscheinlich: Denn die Hamas demonstriert bereits ihre Macht, betont, sie werde sich nicht entwaffnen, während Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu eine Wiederaufnahme der Kämpfe ankündigt, falls nicht auch alle getöteten Geiseln an Israel übergeben werden.
Dabei hatte alles mit ziemlicher Euphorie begonnen. Nach monatelangen ergebnislosen Verhandlungen in Katar und Ägypten präsentierte Trump Ende September einen 20-Punkte-Plan, und schon wenige Tage später stand der Deal. Nun setzt in der Region der Alltag ein. Die letzten 20 noch lebenden israelischen Geiseln sind nach 738 Tagen im Gazastreifen nach Israel zurückgekehrt. Nahezu gleichzeitig wurden rund 2000 palästinensische Gefangene freigelassen. Ungefähr 250 davon verbüßten oft lebenslange Haftstrafen wegen Gewaltverbrechen. Um die 1700 wurden jedoch von israelischen Soldaten im Gazastreifen festgenommen und ohne Anklage inhaftiert. Neben Mördern wurden hier also auch Soldaten, Angehörige des bewaffneten Flügels der Hamas und Menschen freigelassen, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Begrüßt wurden die Freigelassenen auf beiden Seiten mit viel Jubel, bevor dann sehr schnell die Realität einsetzte: Sprecher von Militär und Krankenhäusern berichten von schweren psychischen und körperlichen Erkrankungen bei den freigelassenen israelischen Geiseln. Und palästinensische Ärzte berichten, viele der freigelassenen palästinensischen Gefangenen befänden sich in einem schlechten Zustand, wiesen Spuren von körperlicher Gewalt auf.
»Wir hatten vor dem Krieg sechs Kläranlagen. Davon ist keine einzige mehr übrig.«
Maher Nadschar
Stellvertretender Gaza-Wasserwerkschef
Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatten sich Israels Militär und Regierung intensiv darum bemüht, der eigenen Kriegsführung einen humanen, regelrecht chirurgischen Anstrich zu geben. Der Eindruck der enthemmten Terroristen, die auf Motorrädern durch den eigentlich streng überwachten Grenzzaun rasen, um auf israelischer Seite nichtsahnende Festivalbesucher, Dorfbewohner oder Wehrdienstleistende in kleinen Stützpunkten zu ermorden, saß tief. Auch im Westen war damals vor zwei Jahren die vorherrschende Meinung, dass die Hamas zerstört werden müsse. Und Israels Militär erklärte immer wieder, wie man die Zivilisten warnte, zur Flucht drängte, bevor man ihre Häuser bombardierte. Von »sicheren Korridoren« und »humanitären Zonen« war oft die Rede.
Heute ist der Gazastreifen ein Trümmerfeld. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind mehr als 286 000 Gebäude und 90 Prozent der Strom- und Wasserversorgung sowie der Kanalisation zerstört. »Wir hatten vor dem Krieg sechs Kläranlagen«, sagt Maher Nadschar, stellvertretender Chef der Wasserwerke im Gazastreifen: »Davon ist keine einzige mehr übrig. Und das ist nur ein Teil des Problems: Die Brunnen, die Wasserleitungen und die Kanalisation sind zerstört.« Ungefähr 50 Millionen US-Dollar würden gebraucht, um wenigstens eine grundlegende Versorgung wiederherzustellen. Für eine komplette Instandsetzung bräuchte man wohl »eine Milliarde«.
Allerdings: Die Wasserinfrastruktur ist bereits seit Jahrzehnten marode, stammt überwiegend noch aus der Zeit von vor 1967, als Gaza noch von Ägypten kontrolliert wurde. Schon 2007, jenem Jahr, in dem die Hamas nach Kämpfen mit der Polizei der palästinensischen Autonomiebehörde die Kontrolle über den Streifen übernahm, warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), nur noch weniger als 10 Prozent des Wassers vor Ort sei trinkbar. Im Laufe der Zeit wurde dieser Wert dann immer weiter nach unten korrigiert.
Für die Vereinten Nationen und vor allem deren Flüchtlingshilfswerk UNRWA ist das auch ein unmittelbares Problem: Man könne nicht einfach »irgendwo an einem großen Hahn drehen, damit dann kurz darauf bei den Leuten das Wasser läuft«, sagte Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths vor einigen Wochen vor dem Uno-Sicherheitsrat.
Die Grenzen bleiben dicht
Die marode Infrastruktur stellt Uno und Hilfsorganisationen vor gewaltige Probleme. Denn zwar stehen auf der ägyptischen Seite der Grenze nach Angaben der dortigen Behörden rund 5000 Lastwagenladungen an Hilfsgütern bereit. Aber es fehlt an Tankwagen. Zudem ist die Wüstenregion auf der ägyptischen Seite selbst wasserarm. Wasser für mehr als zwei Millionen Menschen muss also über lange Strecken transportiert werden.
Doch ob es überhaupt weitergeht, ist völlig offen. Noch gelangen nur wenige Hilfsgüter auf die andere Seite; der Grenzübergang ist auf Anweisung der israelischen Regierung weiterhin geschlossen. Der offizielle Grund: Die Hamas hat bisher nur zehn der Leichen von 28 getöteten Geiseln übergeben. Die restlichen Geiseln könnten nur mit großem Aufwand aus den Trümmern geborgen werden, meinen Hamas-Vertreter. Israels Regierung droht dennoch bereits mit erneuten Kämpfen.
Nur wenige Tage, nachdem Trump im Nahen Osten seine Siegesrunde gedreht hat, steht die Umsetzung der anderen 19 Punkte seines Plans aber auch aus anderen Gründen in fernen Sternen. Israels Militär hatte sich gerade erst, so wie vereinbart, auf die Waffenstillstandslinie einige Kilometer innerhalb des Gazastreifens, aber außerhalb der Bevölkerungszentren zurückgezogen, als die Essedin al Kassam-Brigaden, die Miliz der Hamas, mindestens acht Personen auf offener Straße erschoss. Der Vorwurf: Kollaboration mit Israel. Tatsächlich aber werden die Erschießungen als Machtdemonstration gesehen.
Während des Krieges hatte Netanjahu das Militär angewiesen, mit der Hamas rivalisierende Großfamilien zu bewaffnen um den Einfluss der Organisation zu schwächen. Denn neben der Rückkehr der Geiseln war, mit wechselnder Priorität, auch die Zerstörung der Hamas das Kriegsziel gewesen. Auch in Trumps Plan ist vorgesehen, dass die Hamas künftig keine Rolle im Gazastreifen mehr spielen solle. Stattdessen würde ein »Friedensrat« unter Beteiligung von Trump und des ehemaligen britischen Regierungschefs Tony Blair eine Technokraten-Regierung ernennen.
Doch schon unmittelbar nach dem Gefangenenaustausch erklärten Mitglieder des Hamas-Politbüros, die Hamas werde die Waffen nicht niederlegen und auch nicht die Kontrolle über Gaza abgeben. Der große Wurf, den der 20-Punkte-Plan versprach, ist das alles also nicht. Stattdessen erinnern die Rahmenbedingungen stark an die Situation nach dem Ende des letzten großen Gazakrieges im Sommer 2014. Mit dem Waffenstillstand begannen mit internationaler Unterstützung Hilfsgüter und Baumaterial für den Wiederaufbau in den Gazastreifen zu fließen. Israels Regierung führte einen extrem komplexen Mechanismus ein, der sicherstellen sollte, dass Baustoffe und -geräte nicht für die militärische Aufrüstung, also vor allem den Raketen- und Tunnelbau, verwendet werden. Erfolglos.
Hamas nutzt Blockaden für sich
Auch jetzt hat im Hintergrund das Ringen um den Wiederaufbau Gazas längst begonnen. Mitte Oktober 2024 hatte eine internationale Geberkonferenz in Kairo 4,3 Milliarden Euro dafür ausgelobt. Bundesaußenminister Johann Wadephul schlug zuletzt eine weitere Wiederaufbaukonferenz vor. Außerdem forderte er ein Uno-Mandat: Es brauche einen rechtlichen Rahmen für das, was nun im Gazastreifen passiere.
Doch gleichzeitig steht schon jetzt die Frage im Raum, wie man verhindert, dass sich 2014 wiederholt, das Geld nicht für Wasserleitungen, sondern für Raketen ausgegeben wird. Lösungen dafür sind noch keine in Sicht. Derweil ist absehbar, dass die Blockade der Grenzen zum Gazastreifen andauern wird. Und dass die Hamas diese dazu nutzt, um in der eigenen Bevölkerung um Unterstützung zu werben.
US-Präsident Trump drohte der Hamas nach seiner Abreise mit einer gewaltsamen Entwaffnung. Er erwäge, Israel die Wiederaufnahme der Kämpfe »zu erlauben«, sagte er CNN. Tatsächlich gab es bereits wieder Tote: Israels Militär erschoss zwei Palästinenser; sie hätten sich der Waffenstillstandslinie genähert, so die Begründung. Die Vergangenheit leert, dass sich solche Situationen wiederholen werden. Denn nahezu alle landwirtschaftlich nutzbaren Flächen im Gazastreifen befinden sich nun unter Kontrolle Israels. Es wird für alle ein langer, schmerzhafter Weg werden. Zurück ins Leben. Und zum Frieden erst recht.
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