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Grenzregime-Gipfel in Wien
In Österreichs Hauptstadt wird die Zukunft der europäischen Abschottungspolitik verhandelt
Die jährlich ausgetragene Vienna Migration Conference (VMC) ist prominent besetzt: die Innenminister Österreichs und Jordaniens, hochrangige Regierungsoffizielle aus Ägypten, Mauretanien, Irak, Nigeria, Nord-Mazedonien, den Philippinen und zahlreicher EU-Staaten, aber auch Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der EU-Kommission und der Afrikanischen Union – also jener Staaten und suprastaatlicher Organisationen, die derzeit immer rigoroser den Ausbau europäischer oder afrikanischer Grenzregimes vorantreiben. Die VMC gilt als wichtigstes PR-Event des in der europäischen Abschottungsindustrie immer einflussreicher werdenden International Centre for Migration Policy Development (ICMPD).
Offizielles Programm und Veranstaltungsankündigungen der VMC lesen sich wie die allseits bekannte Wohlfühlrhetorik von Grenzregimen, der EU-Kommission oder des ICMPD selbst: abstrakt, irreführend, technokratisch, verharmlosend und – liest man zwischen den Zeilen – gar imperial. Auf den Panels der VMC geht es dieses Jahr unter anderem um Prognosen zu künftigen Migrationsdynamiken, die subsidiären Schutzprogramme für ukrainische Flüchtlinge, »Rückführungen«, »Migrationspartnerschaften« zwischen der EU und Drittstaaten in Afrika oder Asien sowie das gezielte An- bzw. Abwerben von Fachkräften aus Ländern des Globalen Südens. Die wenigen Vertreter der Zivilgesellschaft auf der VMC sind dabei nicht viel mehr als ein pseudo-humanitäres Feigenblatt für eine Konferenz, die für die koloniale und imperiale Kontinuität in den Beziehungen zwischen Europa und seinen früheren Kolonien einsteht.
Für Österreichs Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger wird es die letzte VMC als Generaldirektor des ICMPD sein. Der frühere Spitzenpolitiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) wird nach zehn Jahren an der Spitze der Organisation im Januar 2026 seinen Posten räumen. Seine Wahl zum Generaldirektor 2015 hatte das ICMPD dabei de facto in eine andere Liga katapultiert. Erstmals übernahm damals ein im europäischen Politzirkus extrem gut vernetzter Berufspolitiker den Führungsposten der Organisation. Das Ergebnis: operatives Wachstum und politischer Einflussgewinn. Unter Spindelegger hat sich die Mitarbeiterzahl des ICMPD auf 544 fast verdreifacht (Stand: 2024). Die Anzahl der Büros in Europa, Asien oder Afrika stieg zwischen 2015 und 2024 von 19 auf 31, das Budget von 16,8 Millionen auf 101,4 Millionen Euro und das von dem Grenzregimedienstleister verwaltete Projektvolumen von 111 auf bemerkenswerte 714 Millionen Euro.
Die unter Spindeleggers Ägide initiierte strategische Neuausrichtung der Organisation dürfte dabei das in Wien ansässige Institut über die nächsten Jahre hinweg prägen. Der ÖVPler hielt zwar konsequent an den ideologischen Leitmotiven des ICMPD fest, trieb jedoch zeitgleich eine substantielle geografische Ausweitung seiner Aktivitäten auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent voran und leitete eine operationelle Neuorientierung ein. Der fast ausschließlich informelle Dialogforen, Beratungsdienstleistungen oder Datenerhebung umfassende Soft-Power-Ansatz der Vergangenheit ist passé; heute ist das ICMPD zunehmend in die unmittelbare Aufrüstung von Polizei- und Zollbehörden auf dem Balkan, in Asien und Afrika involviert.
Spindeleggers designierte und ab Januar 2026 auf seinen Posten nachrückende Nachfolgerin Susanne Raab verspricht derweil Kontinuität. Auch sie war österreichische Bundesministerin, hat ein ÖVP-Parteibuch und gilt als gut vernetzt – in Österreich und Brüssel. Der Einflusszuwachs des ICMPD auf Europas Migrationspolitik dürfte sich also auch unter Raab fortsetzen.
Dabei erregt die als hochgradig intransparent und streng neoliberal geltende Organisation seit einigen Jahren zunehmend das Interesse einer kritischen Öffentlichkeit. Bisher standen vor allem die EU-Grenzabschottungsbehörde Frontex und die mit den Vereinten Nationen assoziierte und vor allem mit Abschiebungen zwischen Drittstaaten – im Grenzregime-Jargon meist »freiwillige Rückkehr« genannt – betraute Internationale Organisation für Migration (IOM) im Zentrum der Kritik aktivistischer Bewegungen und medialer Berichterstattung, nicht aber das ICMPD. Das hat sich inzwischen geändert, auch weil die Organisation seit 2016 verstärkt an der polizeilichen Aufrüstung von Grenzregimes in Europa, Asien und Afrika maßgeblich beteiligt ist.
Deshalb mobilisieren für die diesjährige VMC mehrere aktivistische Gruppen für einen Gegengipfel und eine für diesen Dienstag geplante Demonstration in der Wiener Innenstadt. Schon seit Freitag finden im Rahmen des »No Border Summits« Paneldiskussionen, Infoveranstaltungen, Filmvorführungen und Workshops statt. Schon 2022 hatte es kleinere Proteste gegen die VMC gegeben, allerdings hat die diesjährige Gegenveranstaltung bislang spürbar mehr Zugkraft entfaltet. Mehr als 150 Menschen nahmen allein am Auftaktpanel des Gegengipfels am Samstag teil.
»Dass es bisher kaum öffentliche Gegenveranstaltungen zur VMC gab, liegt auch daran, dass das ICMPD jahrelang weitgehend im Schatten agierte und es auch in der Wiener NGO-Szene als nicht besonders skandalös gilt, mit dem ICMPD zu kooperieren«, erklärt das Organisations-Komitee des No Border Summit gegenüber dem »nd«. »Das ICMPD schaffte es bis jetzt, sich als ›neutrale Expertenorganisation‹ darzustellen, obwohl es in Wahrheit ein zentraler Akteur und ideologischer Motor der europäischen Abschottungspolitik ist«, so die Stellungnahme des Komitees weiter. Auf die Rolle des ICMPD als Mittelsmann für von EU oder EU-Mitgliedstaaten finanzierten Grenzauslagerungsprojekten im Globalen Süden anspielend fordern die hinter dem Gegengipfel stehenden Kollektive auch deshalb, »Migrationspolitik nicht an intransparente Organisationen wie das ICMPD auszulagern«.
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