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Politologe Jeanpierre: »Die Straße gehört allen«
Der Politologe Laurent Jeanpierre analysiert die Proteste gegen die Sparpolitik Macrons in der Geschichte sozialer Kämpfe in Frankreich
Seit dem Arbeitsgesetz von 2016 gab es mehrere wichtige soziale Bewegungen in Frankreich. Können Sie Gründe nennen, warum diese Bewegungen gerade in Frankreich so stark sind?
Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um eine französische Besonderheit handelt. Vielleicht trifft das innerhalb Europas zu, global gesehen lässt sich die These einer französischen Ausnahme klar widerlegen. Seit der Finanzkrise von 2007/08, aber vor allem seit den 2010er Jahren erleben wir eine Zunahme sozialer Bewegungen und Kämpfe. Die arabischen Revolten haben den Auftakt dafür gegeben, »Occupy« in den USA und anderen Ländern waren ebenfalls wichtig. Diese sozialen Kämpfe wurden durch die Pandemie unterbrochen. Wenn es überhaupt eine französische Ausnahme gibt, dann liegt sie darin, dass die Bewegungen nach der Pandemie wieder aufgenommen wurden.
Weltweit sehen wir eine Welle starker sozialer Bewegungen, die teilweise sogar Regierungen stürzen. Das ist in Frankreich nicht der Fall. Trotzdem kann man mehrere Faktoren festmachen, die erklären, warum es hier fast jedes Jahr zu sozialen Protesten kommt. Erstens spielt seit rund zehn Jahren die Mobilisierung auf der Straße eine zentrale Rolle. »Die Straße« gehört allen, und sie ist ein von der Mehrheit akzeptierter Aktionsmodus. Zweitens ist zwar der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten gering, er liegt zurzeit bei zehn bis elf Prozent. Doch Gewerkschaften schaffen es weiterhin, im öffentlichen Dienst und unter Studierenden zu mobilisieren, vor allem, wenn es um den Sozialstaat geht. Ein dritter Grund ist die Krise anderer Formen politischer Teilhabe, wie wir sie auch in anderen Ländern beobachten. Besonders die sehr niedrige und weiter sinkende Wahlbeteiligung, mit Ausnahme der Präsidentschaftswahlen, ist Ausdruck von Misstrauen gegenüber der politischen Klasse, sowohl links wie rechts. Damit werden Proteste auf der Straße zum Ausdruck von Unzufriedenheit, genau dort, wo andere Formen politischer Teilhabe an Bedeutung verlieren.
Laurent Jeanpierre ist Professor für Politikwissenschaften an der Sorbonne in Paris und arbeitet seit vielen Jahren zur Soziologie sozialer Bewegungen und zu kritischer Gesellschaftstheorie. 2019 erschien von ihm eine Studie über die Gelbwesten. 2022 hat er gemeinsam mit Haud Guéguen ein Buch zur »Perspektive des Möglichen« veröffentlicht, in dem sie über die Transformationsmöglichkeiten der Gegenwart nachdenken. 2023 war er Mitherausgeber eines Sammelbands zur »Globalen Geschichte der Revolution«.
Die vergangenen zehn Jahre waren von sehr unterschiedlichen Bewegungen mit jeweils verschiedenen politischen Forderungen geprägt. Die Proteste gegen das Gesetz El Khomri 2016, die Gelbwesten 2018, die Revolten auf den Antillen 2021/22, die Bewegung gegen die Rentenreform 2023, die Proteste nach dem Tod von Nahel Merzouk im selben Jahr sowie die propalästinensischen Demonstrationen und die Bewegung in Neukaledonien im Jahr 2024. Einige dieser Bewegungen sind klar links, andere sind politisch ambivalenter. Sehen Sie, trotz der Unterschiede, Verbindungen zwischen den Bewegungen?
Man müsste die ökologischen Bewegungen ergänzen. Eine Zeit lang war, das ist mittlerweile nicht mehr so, der Klimawandel für die Französinnen und Franzosen die zweitwichtigste politische Frage, nach dem Kaufkraftverlust und noch vor Themen wie Einwanderung und Sicherheit. Es lassen sich vier Verbindungslinien ziehen. Eine erste, negative Verbindung ist die Repression. Alle diese Bewegungen waren starker Polizeirepression ausgesetzt. Im Fall der Gelbwesten führte das zu einer Zahl an Verletzten, wie man sie wohl seit 1968 oder den Demonstrationen gegen den Algerien-Krieg nicht mehr gesehen hat. Die positiven Verbindungen sind schwerer zu benennen, da die Bewegungen sehr unterschiedlich sind. Eine Verbindung sind personelle Überschneidungen. So konnte man zum Beispiel viele junge Menschen sehen, die sich 2016 politisiert haben, dann an der Gelbwestenbewegung teilnahmen, gegen die Rentenreform protestierten und sich anschließend in den ökologischen Kämpfen engagiert haben. Einige der Bewegungen sind also durch gemeinsame Akteur*innen miteinander verknüpft.
Eine zweite Verbindung ist die Ähnlichkeit der Aktionsformen. Diese Bewegungen finden ihren Ausdruck vor allem in dezentralen Demonstrationen, die meist außerhalb von Paris stattfinden, und nehmen teilweise auch aufständische Züge an. Das ist besonders deutlich in den Überseegebieten, bei den Gelbwesten und in Teilen der Bewegung von 2016. Und dann gibt es noch eine weitere, vielleicht noch wichtigere Verbindung: die Forderungen. Viele dieser Bewegungen teilen die Kritik an steigenden Lebenshaltungskosten und ein Gefühl der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, das sich weniger auf die Arbeit, sondern vielmehr auf die finanzielle Situation der Haushalte bezieht. Das ist besonders deutlich in den Überseegebieten. Auch die Kritik an Polizeigewalt, die ich zu Beginn erwähnt habe, ist ein verbindendes Thema.
Und die aktuelle Bewegung Bloquons tout, drei Wochen nach dem Stichtag am 10. September und nach zwei Streiktagen – wie würden Sie diese Bewegung einordnen?
Bloquons tout beginnt im Internet. Mit Menschen, die nicht unbedingt politisiert sind, die ursprünglich eher sogar aus der Rechten, vielleicht sogar aus der extremen Rechten kommen, und einen Slogan übernehmen, der aus der Ultralinken kommt und in den 2000er und 2010er Jahren populär war: Er rief dazu auf, die ökonomischen Ströme zu blockieren. Und dieser Aufruf stieß in Telegram-Kanälen, in den sozialen Medien, vor allem aber auf Tiktok auf große Resonanz.
Ich denke, wir können zurzeit zwei »Protestsprachen« sehen, und das nicht nur in Frankreich. Eine Sprache, die ich »fordistisch« nennen würde, verweist auf den fordistischen Kompromiss der Nachkriegszeit. Frankreich ist vermutlich das einzige Land, in dem es noch sehr starke historische Spuren dieses fordistischen Kompromisses zwischen dem Staat, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmer*innen gibt. Hier spielen Streik, Verhandlungen und Proteste im Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit eine wichtige Rolle. Diese fordistische Sprache wird vor allem von repräsentativen Organisationen wie Gewerkschaften gesprochen und äußert sich in klassischen Demonstrationen. Sie ist in Frankreich weiterhin präsent.
Daneben entwickelt sich aber eine weitere Sprache, die ich als »postfordistisch« bezeichnen würde. Sie wird auf anderen Kanälen gesprochen, in denen die Arbeitswelt eine geringere Rolle spielt, in sozialen Netzwerken, außerhalb repräsentativer Organisationsformen. Die politischen Zugehörigkeiten sind hier zweitrangig und das Aktionsrepertoire ist stärker von aufständischer Gewalt und Selbstorganisation geprägt.
Diese Sprache hat teilweise Nuit Debout geprägt, die Gelbwesten sind die emblematische Bewegung dieses Protesttyps. Beide Sprachen koexistieren in Frankreich. Bloquons tout und die zwei Streiktage sind eine Sequenz, in der der fordistische Teil versucht, den postfordistischen Teil einzufangen – und gerade ist ihm das gelungen: Er hat den ganzen Sommer über in den sozialen Netzwerken in seiner fordistischen Sprache gesprochen und so die Bewegung in seine Formen kanalisiert.
Wenn man sich diese Bewegungen anschaut, vor allem diejenigen, die die alte Sprache sprechen, dann sind das Bewegungen, die es trotz massiver Proteste nicht geschafft haben, ihre Forderungen durchzusetzen. Was heißt das für diese Aktionsformen?
Ich würde auch sagen, dass es Niederlagen gab. Aber die Bewegungen, die die neue Protestsprache sprechen, haben tendenziell größere Erfolgschancen. Das gilt für die Gelbwesten genauso wie für die ökologischen Bewegungen. Beide haben zumindest einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen können. Außerdem, und das ist entscheidend, sind Forderungen für diese Bewegungen eher zweitrangig. Zwar stellen diese Bewegungen Forderungen, beispielsweise den Baustopp eines großen Projekts, aber es sind vor allem Bewegungen, die andere Formen von sozialen Beziehungen herstellen, vor allem lokal verankerte Beziehungen. Man kann also ihren Erfolg oder Nichterfolg nicht ausschließlich an der Umsetzung ihrer Forderungen durch die Regierung bestimmen.
Was sagt das über den Umgang der Regierung mit diesen Bewegungen?
Ich denke, wir erleben hier eine gewisse Aufspaltung. Das institutionelle politische System, historisch eng mit den fordistischen sozialen Bewegungen verbunden, weiß heutzutage nicht mehr, wie es mit dem immer größer werdenden Teil umgehen soll, der die neue Sprache spricht. Das heißt also, dass es eine Trennung gibt zwischen der Regierungsetage, den politischen Organisationen und den sozialen Bewegungen, die eine Form des permanenten Protests unterhalten. Das ist keine permanente Revolution, sondern ein permanenter Protest, für den Frankreich seit zehn Jahren die Bühne ist.
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