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Aufrüstung ist beschlossene Sache
Arbeitsprogramm der EU-Kommission bringt Chef des Wirtschafts- und Sozialausschusses in Erklärungsnot
»Verteidigung und Abschreckung« – das sind die Schlüsselworte für das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2026. »Dies ist das Herzstück unseres Fahrplans für die Verteidigungsbereitschaft 2030.« Das machte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, bei der Vorstellung vergangene Woche in Brüssel klar. Sie wolle weiter Druck auf Russland ausüben und »den Widerstand der Ukraine auf jede erdenkliche Weise unterstützen«, verkündete sie. Ausformuliert wurde die Neuausrichtung im Programm »Renewal 2030«, das zunächst noch »Re:Arm Europe« hieß. Darin vorgesehen: Rüstungsausgaben in Milliardenhöhe.
Die Befürchtung ist bei vielen groß, dass das Geld dafür aus den Sozial- und Bildungsbudgets kommen wird. Dies zu verhindern, war das Ziel des damaligen Präsidenten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA), Oliver Röpke. Im März betonte er im Interview mit dem Autor am Rande der alljährlichen Zivilgesellschaftswoche in Brüssel, dass die Aufrüstung aus einem »Sonderbudget« finanziert werde: »Geld aus dem Sozialhaushalt wird es dafür nicht geben.« Doch die fünfjährige Amtszeit des gebürtigen Hamburgers, der als Wahl-Wiener ein Vertreter der österreichischen Gewerkschaften im EWSA war, ist seit dieser Woche offiziell zu Ende.
Abschreckung auf Kosten der Bildung
Am Mittwoch wurde Séamus Boland zum neuen EWSA-Präsidenten gewählt. Boland kommt aus der sehr ländlichen Grafschaft Offaly in Zentralirland. Im Gegensatz zu Röpke ist er kein Gewerkschafter, sondern Bauernvertreter. Und er schlägt andere Töne an: Das »alte Europa« sei vorbei: »Wir sind im neuen Europa.« Es erinnert stark an Olaf Scholz’ Zeitenwende-Terminologie.
Europa habe Kriege an seiner Türschwelle: »Unser Ausschuss hat eine lange Geschichte der Unterstützung Europas. Die Ukraine ist Teil von Europa.« Er werde in seiner ersten Amtsreise diese Woche ins Baltikum fahren: »Das ist eine starke Botschaft von mir«, betont er: »Wir müssen uns verteidigen.«
Interesse vor allem in Osteuropa
Boland skizziert die Aufgabe des EWSA in der kommenden Periode: »Wir müssen ihnen erklären, warum Europa wichtig ist. Denn die Menschen verstehen nur, dass sie etwas finanzieren müssen, wenn sie verstehen, wofür sie das tun«, erklärte er in der Pressekonferenz auf die Frage eines Kollegen der slowakischen Tageszeitung »Pravda«. Überhaupt sind in der Medienriege der konstituierenden Sitzung der neuen EWSA-Funktionsperiode überwiegend osteuropäische Kollegen angereist. In der Gruppe von rund 25 Journalisten sind jeweils ein Kollege aus Portugal, Spanien, Irland, Dänemark und Schweden. Der Rest kommt aus Osteuropa.
Die Pressekonferenz fand im Anschluss an die Wahl des neuen Präsidiums im Plenarsaal des Europäischen Parlaments statt. Als Vizepräsidentinnen an der Seite Bolands wurden Marija Hanževački, eine kroatische Gewerkschafterin, und Alena Mastantuono, die Vertreterin der Unternehmerseite aus Tschechien, gewählt.
Der EWSA ist eines der ältesten Gremien der EU. Er wurde 1958 gegründet und soll in sozialpartnerschaftlicher Manier als Beratungsgremium für das Europäische Parlament dienen: Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaften sind vertreten. Doch seine entscheidende Schwäche: Er hat keine legislative Befugnis. Und er ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt – etwa auch im Vergleich zum viel jüngeren Ausschuss der Regionen, mit dem sich der EWSA das Jacques-Delors-Gebäude im Zentrum Brüssels teilt.
EWSA-Chef will »Kampf gegen die Armut«
Ins Zentrum der Arbeit will Boland den »Kampf gegen die Armut« stellen: »20 Prozent der Bürger der EU sind von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen«, betont er in seiner Antrittsrede am Donnerstagvormittag. Extreme Armut würde sukzessive ansteigen. In seinem Arbeitsprogramm gibt er drei Schlagworte vor: Möglichkeiten, Sicherheit und Resilienz.
Am Mittwoch zum Antrittsbesuch beim Präsidenten des Europäischen Rats, António Costa, rückte Boland die Wohnungskrise in den Mittelpunkt: »Daran kann erkannt werden, wie wichtig die Lösung der Wohnungskrise für die gesamte EU in der kommenden Periode sein wird«, erklärte Boland. Doch konkrete Lösungsansätze finden sich dazu in seinem Arbeitsprogramm nicht. Stattdessen berichtete er auf der Pressekonferenz, wie interessant und wertvoll er es fand, dass nun in Polen neue Wohnblocks gebaut werden, deren Keller als Bunker im Kriegsfall verwendet werden können: »Ich habe das vor Jahren in den USA kennengelernt und war damals verwundert. Aber daran erkennen wir, in welchen Zeiten wir leben.«
Wirtschaftswachstum soll Rüstung finanzieren
Doch ein polnischer Kollege des dortigen Deutsche-Welle-Büros lässt nicht locker und fragt Boland neuerlich, wie garantiert werden kann, dass es durch die Rüstungsausgaben nicht zu Einsparungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich kommen wird. Der neue EWSA-Präsident antwortet wiederum ausweichend. Zölle und Regulierungen sollen garantieren, dass die Rüstungsgüter in der EU produziert werden: »Durch die Verteidigung- und Sicherheitsindustrie wird es auch zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kommen. Es wäre schön, wenn durch diesen wirtschaftlichen Aufschwung die Rüstungsgüter finanziert werden können.« Dann würde es auch kein zusätzliches Geld benötigen, meint Boland: »Aber viel wichtiger ist es, den Menschen zu erklären, wieso diese Kosten notwendig sind«, beschreibt Boland neuerlich die Rolle des EWSA.
Den Bürgern der EU erklären, wieso Sozialkürzungen für Hochrüstung notwendig sind, soll die Aufgabe ausgerechnet des Sozialausschusses werden, scheint die Botschaft zu sein. Eine Sichtweise, die vor allem die Gewerkschaftsvertreter im EWSA so nicht teilen, ist aus den Gesprächen am Rande der Sitzungen zu vernehmen.
Gewerkschafter fordern höhere Steuern auf Gewinne
Sophia Reisecker von der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten fordert vielmehr die Einnahmeseite zu erhöhen: Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Zölle an den EU-Außengrenzen sollen die neuen Ausgaben finanzieren, erklärt sie im »nd«-Gespräch. Außerdem fordert sie, dass die Aufträge an die Rüstungsindustrie nur an Unternehmen vergeben werden, die sich an Tarifverträge halten.
Für Reisecker bedeutet die Sicherheit Europas nicht nur die Verteidigung im Osten, sondern auch »innere Sicherheit und Resilienz in Krisenfällen«. Dies gelinge nur durch die Stärkung von sozialen und Arbeitsrechten: »Ein großer Teil des EU-weiten BIP sind öffentliche Aufträge. Diese müssen auch an arbeitsrechtliche Kriterien gebunden werden«, fordert sie. Ob dies dem EWSA als reines Beratungsgremium unter der Präsidentschaft von Boland gelingen wird, ist zu bezweifeln. In der Rede von Ratspräsidentin von der Leyen einen Tag zuvor war von der Verteidigung von gewerkschaftlichen und sozialen Errungenschaften nichts zu hören.
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