Jazzdrummer Joe Hertenstein bittet zum Siebten Abendmahl

Joe Hertenstein liefert immer wieder Argumente für das Jazzhören. Auch auf seinem neuen Livealbum

  • Robert Mießner
  • Lesedauer: 4 Min.
Und höre Hertenstein: Purismus und reine Lehre sind seine Sache nicht.
Und höre Hertenstein: Purismus und reine Lehre sind seine Sache nicht.

Eines der Argumente dafür, Jazz zu hören, sind die Drummer. Kommt alle her, singen die Trommeln. Eine knappe Minute werben Holz, Fell und Blech kreuz und quer verquickt um Besuch, dann stellen sich tatsächlich nacheinander Bass, Posaune und Saxophon ein. Noch eine Minute, und das Saxophon setzt zum Höhenflug an. Kurze, spitze Figuren, die Posaune antwortet, später ein Break, die Posaune faucht, die Unruhe wächst.

Ein weiteres Argument dafür, Jazz zu hören, ist diese Platte: Bei »The 7th Dinner LIVE« handelt es sich um eine Quartetteinspielung von Drummer Joe Hertenstein mit Ray Anderson an der Posaune, Michael Moore an Altsaxophon und Klarinette und Bassist Michael Formanek. Entstanden sind die Aufnahmen im Herbst letzten Jahres während einer zweiwöchigen Europatournee im Institut Français Berlin, in der Alten Gerberei St. Johann in Österreich und auf dem Jazz & Wine of Peace Festival in Cormons, Italien.

»The 7th Dinner LIVE« gehört zu den gar nicht mal so seltenen Jazzalben, auf denen der Drummer der Bandleader ist: »We Insist! Freedom Now Suite« von Max Roach, ein Klassiker der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der USA aus dem Jahr 1960, ist eines davon. Ein späteres sind die »Six Little Pieces for Quintet« von Sven-Åke Johansson, ein 2000 erschienenes schönes Beispiel für Free Jazz ohne Ellenbogen, ebenso wie Gard Nilssens Supersonic Orchestra mit »Family«, einer Hommage an Sun Ra, Charles Mingus und Albert Ayler von 2023. Freiheit hat hier nichts Blindwütiges an sich, sondern ist die Praxis von Menschen, die einander sehr genau zuhören.

Joe Hertenstein ist im Schwarzwald als Jörg aufgewachsen. Mit dem Umlaut konnte er sich nicht anfreunden und ist so schon als Teenager zu Joe geworden. New York war lange seine Adresse, jetzt lebt er in Kreuzberg. Bei dem Wort Anarchie wird er hellhörig; Demokratie ist verträglicher, regt er an. Wer mit Hertenstein spricht, erlebt einen Musiker, dem die Tagesnachrichten nicht die Sprache verschlagen haben, im Gegenteil, Purismus und reine Lehre sind seine Sache nicht.

Großgeworden ist Hertenstein zwischen Beethoven, Punk und Doom, bis er mit 19 Jahren auf die Musik von Charlie Parker traf. Hertenstein war baff. Drei Jahrzehnte später kann er sich immer noch für Jazzpioniere wie den Altsaxophonisten Parker oder die Pianistin Jutta Hipp begeistern: »Alles Jutta« heißt eine der fünf Kompositionen Hertensteins auf »The 7th Dinner LIVE«. Er grundiert die robuste Melodie mit einem trickreichen Groove, das Quartett endet mit einem Tusch.

Dazwischen pendelt Ray Anderson auf der Posaune zwischen Schimpfen und Trauer, und das mit Gründen: Jutta Hipp aus Leipzig, Swingkid und nach dem Zweiten Weltkrieg Hoffnung des europäischen Jazz in den USA war eine von den Männern hofierte und dann fallengelassene Musikerin. Daran sollte denken, wer zwischen Jazz und Solidarität automatisch ein Gleichheitszeichen setzt.

Reflexion bleibt angesagt. Ein langsames Stück wie die »Ballad for Paul & Poo« ist da nicht die schlechteste Begleitung: Besenschlagzeug, lyrisches Saxophon, der Bass erinnert an ein Pendel und die Posaune anfangs an ein Streichinstrument. Mit Klopfzeichen betritt der »Fourdance« abstrakteres Terrain voller Hab-Acht-Momente und einem ziemlich abrupten Paukenschlag.

Auf der Klarinette leitet Michael Moore seine Komposition »Providence« ein, das nach einiger Diskussion aller Beteiligten geradlinigste Stück des Albums. Joe Hertenstein, Ray Anderson, Michael Moore und Michael Formanek scheuen weder Groove noch Kantigkeit. Die Gäste des siebten Abendmahls sind hörbar aus dem Häuschen. Noch so ein Argument für den Jazz: Er kann gute Laune machen, ohne so zu tun, als sei sie im Sonderangebot zu haben.

Hertenstein, Anderson, Moore & Formanek: »The 7th Dinner LIVE« (Fundacja Słuchaj), erhältlich über https://www.joehertenstein.com und https://joehertenstein.bandcamp.com/.

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