Irak: Eine zerrissene Gesellschaft

Der Irak kämpft weiterhin mit den internen Konflikten zwischen Ethnien und Konfessionen

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Mann zieht einen mit Kisten beladenen Karren an Wahlplakaten in der südirakischen Stadt Basra vorbei. Trotz enormer Erdölreserven ist der Irak für den Großteil seiner Bevölkerung ein armes Land, in dem viele keine auskömmliche Arbeit finden.
Ein Mann zieht einen mit Kisten beladenen Karren an Wahlplakaten in der südirakischen Stadt Basra vorbei. Trotz enormer Erdölreserven ist der Irak für den Großteil seiner Bevölkerung ein armes Land, in dem viele keine auskömmliche Arbeit finden.

Nichts ist gut im Irak. Auch wenn sich die Sicherheitslage beträchtlich verbessert hat, ist das Land weit davon entfernt, wie ein »normaler« Staat zu funktionieren, der seinen Bewohnern die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise finden die Menschen kaum Arbeit; dazu kommen die ständigen Stromausfälle, weil die Produktion von Elektrizität nicht ausreicht. Gerade im Sommer, wenn die Menschen ihre Klimaanlagen anwerfen, macht sich dies bemerkbar. Und der Irak ist besonders vom Klimawandel betroffen, kennt praktisch jedes Jahr neue Hitzerekorde, die regelmäßig die 50 Grad Celsius übersteigen.

Entscheidende Maßnahmen von der Politik zu erwarten, um die Situation grundlegend zu verbessern, ist reines Wunschdenken. Daran werden auch die jüngsten Parlamentswahlen nichts ändern. Das politische System ist seit mittlerweile Jahrzehnten blockiert durch eine fein austarierte Verteilung der Macht, mit entsprechender Zuweisung der entscheidenden Posten im politischen System, was Korruption und Nepotismus begünstigt. So muss der Regierungschef ein Schiit sein, der Parlamentspräsident ein Sunnit und der Staatspräsident ein Kurde. An diesem System, das von den jungen Generationen seit Langem infrage gestellt und bekämpft wird, will niemand sonst rütteln, und jeder Versuch könnte die Konflikte zwischen den einzelnen Gruppen wieder entfachen.

Zudem bleibt der Irak autoritär-repressiven Strukturen verhaftet. So vervierfachte der Irak seine Hinrichtungen im Jahr 2024 von mindestens 16 auf mindestens 63, schreibt Amnesty International zuletzt. 2022 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Normalisierung der Beziehungen zu Israel unter Strafe stellt, und zwar mit der Todesstrafe oder lebenslanger Haftstrafe. Junge Aktivisten beklagen, wie Protest gegen die herrschenden Verhältnisse hart sanktioniert wird, die Toleranzgrenze quasi bei Null liegt.

Die von den USA heraufbeschworene Vorzeigedemokratie an Euphrat und Tigris ist letztlich ein Hirngespinst aus den Köpfen der US-amerikanischen »Neocon«-Bande, einer Gruppe von Kriegstreibern um ehemalige Regierungsmitglieder wie Ex-Vizepräsident Dick Cheney und Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Beide sind inzwischen verstorben und waren maßgebliche Treiber fataler Angriffskriege gegen den Irak: 1991 infolge der Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein und 2003 die durch Lügen untermauerte Invasion mit dem anschließenden Sturz Husseins.

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Danach versank das Land buchstäblich im Chaos grenzenloser Gewalt mit blutigen Bombenattentaten unter den jeweiligen Konfessionen und dem folgenden Aufstieg des Islamischen Staats, der sich dann nach Syrien ausbreitete. Die US-Regierung wollte mit der Invasion von 2003 die »Demokratie« herbeibomben. Das Experiment kostete mindestens 150 000 Irakerinnen und Irakern das Leben – konservativ gerechnet; andere Zahlen bewegen sich zwischen einer halben und gar einer Million Toten.

Diese Jahre haben das Land gezeichnet, die konfessionell-ethnischen Unterschiede vertieft und künstlich akzentuiert. Ob das Proporzsystem zur Verteilung der Macht Ursache oder Folge dieser Differenzen ist, darüber darf man streiten. Fakt ist, dass das Muhasasa genannte System der Machtaufteilung keine Erfindung der US-Regierung ist, sondern bereits in den 90er Jahren von irakischen Oppositionsgruppen ersonnen worden war, aber durch die US-Besatzer quasi etabliert und institutionalisiert wurde. Mit Sicherheit führt es dazu, dass sich eine übergreifende Loyalität zum irakischen Staat, der als postkoloniales Konstrukt aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches gebildet wurde, unabhängig von ethnischer oder religiöser Gruppenzugehörigkeit, kaum herausbilden konnte und kann. Und so haben es auch Parteien schwer, sich losgelöst von Gruppenzugehörigkeiten zu etablieren und an politischen Programmen für alle Iraker zu orientieren.

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