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Wurzeln im Asphalt

Das Kunstwerk des Monats: Theo Eshetus »Garten: Eine Ode an den Mut«

  • Vera-Simone Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.
Carl von Linné zwang Pflanzen in ein hierarchisches Raster taxonomischer Ordnung, das eng mit Strukturen kolonialer Gewalt, Extraktivismus und Ausbeutung verbunden war.
Carl von Linné zwang Pflanzen in ein hierarchisches Raster taxonomischer Ordnung, das eng mit Strukturen kolonialer Gewalt, Extraktivismus und Ausbeutung verbunden war.

Seit September birgt der Biennale-Pavillon in Sāo Paulo ein Werk, das den Bau von Oscar Niemeyer zum umliegenden Ibirapuera-Park der brasilianischen Großstadt öffnet. »Garten: Eine Ode an den Mut« (2025) von Theo Eshetu entstand für die 36. Sāo-Paulo-Biennale, die von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, dem Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, kuratiert wurde. Die großformatige Installation besteht aus neun vor schwarzem Hintergrund angeordneten Videos. Über fünf kleineren Segmenten erhebt sich ein zentrales Bildfeld, das von zwei mittelgroßen, rechteckigen Paneelen und einer kreisrunden Darstellungsfläche bekrönt wird. Auf jeder Ebene wird jeweils ein Video abgespielt, sodass sich ein Wechselspiel zwischen multiplen Bildfeldern und Einzeldarstellungen ergibt. Zentrale Protagonistinnen der Komposition sind Pflanzen, die aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt werden und deren Thematik auch die begleitende Tonspur bestimmt, die mit den Worten beginnt: »Dürfen wir es wagen, von einer Art Pflanzengehirn zu sprechen?«

Kunstwerk des Monats

Für Goethe ist die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«. Was ist daran bewegend, was politisch? Das erklären wir an einem aktuellen oder historischen Beispiel: Das Kunstwerk des Monats.

Die Frage ruft naturwissenschaftliche Assoziationen hervor. Tatsächlich kommt Pflanzen jedoch auch in den Geisteswissenschaften längst eine solche Bedeutung zu, dass im angloamerikanischen Raum bereits seit einigen Jahren von den »Plant Humanities« die Rede ist. Diese versuchen aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen, die Beziehungen zwischen Pflanzen und Menschen neu zu denken. Im Zentrum steht die Frage, wie Pflanzen nicht nur als Objekte wissenschaftlicher Klassifikationen, sondern als Trägerinnen von Geschichte, Erinnerung, Wissen und Widerstand verstanden werden können.

So fungierten Pflanzen nicht erst im Zuge des sogenannten kolumbianischen Austauschs – des transatlantischen Transfers von Pflanzen, Menschen und Wissen nach 1492 – als Akteurinnen tiefgreifender ökologischer und transkultureller Transformationen. Das System von Carl von Linné zwang Pflanzen in ein hierarchisches Raster taxonomischer Ordnung, das eng mit Strukturen kolonialer Gewalt, Extraktivismus und Ausbeutung verbunden war.

Eshetus »Garten« wendet sich gegen ein Denken, das den Menschen ins Zentrum stellt.

Nach der Postulierung des Anthropozäns, eines geologischen Zeitalters also, in dem menschliches Handeln die Erde prägt, gibt es jetzt auch das Konzept des Plantationozäns, eines Zeitalters der Plantagenwirtschaft: Diese geht mit historischer Ungleichheit, der Geschichte der Versklavung, historischen Gewaltverhältnissen, Landnahme, der Enteignung indigener Bevölkerungen und den ökologischen Folgen von kolonialen Ökonomien und andauernder Kolonialität einher.

Theo Eshetu, 1958 als Sohn einer Niederländerin und eines Äthiopiers in London geboren, setzt sich in seinen Werken häufig mit der militärischen Besetzung Äthiopiens durch die italienische Armee unter Mussolini auseinander. In einer Video-Arbeit von 2009 widmete er sich etwa der Restitution des Obelisken von Axum, dessen Geschichte er in einer Folge von Bildschirmen, vergleichbar mit einem mehrteiligen äthiopischen Sakralbild, erzählte. Pflanzen spielten hinsichtlich italienischer Kolonialambitionen am Horn von Afrika ebenfalls eine zentrale Rolle, wovon Herbarien, botanische Gärten und vegetabile Exponate in Museen, aber auch das Agronomische Übersee-Institut, das 1904 in Florenz gegründet wurde, zeugen. Doch Eshetus »Garten« birgt weder Referenzen zur italienischen Kolonialgeschichte noch zum Thema Pflanzen in Bezug zu Brasilien.

Eshetu wählte Pflanzen aus dem bayrischen Rosenheim und aus Mallorca für seine Video-Arbeit, wo er jeweils in von Menschen gestalteten Kontexten – etwa in landwirtschaftlichen oder Parkanlagen – filmte und fotografierte und diese Aufnahmen mit Archivmaterial zu Pflanzen kombinierte. Dabei richtete er den Fokus auf die Lebenszyklen von Pflanzen, auf ihre Interaktionen untereinander sowie mit Tieren, die – von Insekten bis hin zu Huftieren – ebenfalls in den Videos erscheinen.

Mit einer Linse, die sowohl Weitwinkel- als auch Makroaufnahmen erlaubt, erforscht Eshetu dabei nicht nur die Sprache von Pflanzen, sondern auch die des Videos, die Grenzen zwischen Fotografie und bewegtem Bild. Die Installation wird so zu einer Meditation über das Sehen selbst, über die technischen Apparate, mit denen der Mensch versucht, Natur zu fassen.

Die Anordnung der Videos mit den unterschiedlichen Bildfeldern erinnert dabei an ein Polyptychon, ein großformatiges Altarbild, das aus verschiedenen, kleineren Bildtafeln besteht. Gleichzeitig ruft der Kontrast zwischen den vielfarbigen, bewegten Bildern und dem schwarzen Hintergrund die Assoziation von Kirchenfenstern aus Buntglas hervor. Die gesichtsähnliche Anordnung mit einer kreisrunden Stirn und zwei an Augen erinnernden Paneelen über einer Nase und einem fünfteiligen Mund lässt jedoch auch eine anthropomorphe Struktur erkennen, die an eine Maske erinnert und damit auf Beziehungen zwischen Brasilien und dem afrikanischen Kontinent und den Kontext des »Black Atlantic« verweist. Unweit des Niemeyer-Baus befindet sich das Afro-Brasilianische Museum, in dem diese transatlantischen Verflechtungen verfolgt werden.

Zugleich wendet sich Eshetus »Garten« gegen ein Denken, das den Menschen ins Zentrum stellt, und gegen die eurozentristische Gewalt, die mit der Aufklärung einherging. In den zwei Paneelen der Installation, die die »Augen« der Maske bilden, erscheint zeitweise eine Karte, die die Bezeichnung »Europa« trägt – ein Hinweis auf die Verblendung des Sehens durch eurozentristische Perspektiven. In einer Zeit, in der die Welt die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz diskutiert, provoziert Eshetu mit seinem Fokus auf die Frage nach der Intelligenz von Pflanzen. Seine Installation ist zugleich ein Appell, sich vom Mut von Pflanzen inspirieren zu lassen – von Pflanzen, die mit ihren Wurzeln auch Asphalt durchbrechen und so Widerstand und Resilienz verkörpern.

36. Bienal de Sāo Paulo, bis 11. Januar 2026

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