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Böhmen am Meer
Früher wusste man sich noch richtig zu beleidigen, zum Beispiel Shakespeares (Zeit-)Genosse Ben Jonson
Es ist ja eine hinlänglich bekannte alte Leier: Der Ton wird rauer. In überspannten Zeiten wie den unseren wird viel geschrien und wenig geredet. Es gibt mutmaßlich viele Schuldige an dieser Entwicklung. Die Hauptschuld aber trägt das olle Internet.
Wenn ich nun aber im öffentlichen Nahverkehr meine Mitreisenden belausche, um diesen rauen Ton genauer bestimmen zu können, bin ich regelmäßig ein wenig enttäuscht. »Bist du dumm, oder was, Digger?«, heißt es da nicht selten. Und da »Digger« wohl, anders als man zunächst vermuten würde, eher eine liebevoll gemeinte Anrede ist, ist die Beleidigung im ersten Teil der rhetorisch zu verstehenden Frage zu finden. Nun ja, ob jemand dumm sei, ist mit Blick auf Originalität wie auf Drastik dann doch sehr enttäuschend. Ein rauer Ton, ja, vielleicht, aber auch äußerst konventionell.
Ganz anders verhält es sich bei Shakespeares (Zeit-)Genossen Ben Jonson. Dessen lyrisches und dramatisches Werk ist hierzulande – sieht man vielleicht von der auch nicht gerade häufig gegebenen Komödie »Volpone« ab – eher unbekannt. Aber seinen Ruf als (post-)elisabethanische Lästerschwester hat er sich doch erarbeitet und über seinen Tod hinaus bewahrt.
Wie es euch gefällt: Alle zwei Wochen schreibt Erik Zielke über große Tragödien, politisches Schmierentheater und die Narren aus Vergangenheit und Gegenwart. Inspiration findet er bei seinem Genossen aus Stratford-upon-Avon.
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Mit William Shakespeare verband ihn ein komplexes Verhältnis. Seinen Kollegen und Konkurrenten, Freund und Feind, betrachtete der hochgebildete und hochbegabte Jonson mal verächtlich, mal bewundernd. Und auch in seinem Nachruf auf Shakespeare, der voll des Lobes ist, kann er sich den Hinweis nicht verkneifen, dass der große Barde »geringe Kenntnisse in Latein«, aber »noch geringere in Griechisch« vorzuweisen habe.
In Jonsons erhaltenen Lektürenotizen stellt er fest, dass Shakespeare von den Schauspielern dafür bewundert würde, dass er in seinen zahlreichen Schriften nie eine Zeile gestrichen habe. Das Lamento folgt sogleich: »Hätte er doch tausend gestrichen!« Und auch der frevelhafte Kritiker der Gegenwart kann sich des Urteils nicht erwehren, dass die – heute natürlich freimütig zusammengestrichenen – Shakespeare-Dramen auf der Bühne zwischen der ersten und dritten Stunde mitunter etwas lang werden. Und überhaupt: Was verstehen denn Schauspieler vom Theater?
Wirklich zur Sache ging es aber bei den berühmt-berüchtigten Tischgesprächen, zu denen Jonson lud. Von diesen sicher sehr heiteren, bestimmt auch trinkseligen Zusammenkünften haben wir heute immerhin mehr als nur eine Ahnung. Denn den schottischen Dichter William Drummond of Hawthornton hatten Jonsons geistreiche wie scharfzüngige Bemerkungen offenbar so frappiert, dass er zum Notizbuch gegriffen hat. Und dem Übersetzer Werner von Koppenfels sei Dank liegen sie sogar auf Deutsch vor.
So bemerkte Jonson: »Shakespeare brachte in einem Theaterstück« – gemeint ist »Das Wintermärchen« – »ein paar Leute auf die Bühne, die behaupten, sie hätten in Böhmen erlitten, von wo die nächste See ein paar hundert Meilen entfernt ist.« Oder anders ausgedrückt: Ist er dumm, oder was?
Allen Lobpreisungen zum Trotz, auch denen aus seiner eigenen Feder, konnte er nicht umhin festzustellen: »Dem Shakespeare fehlt’s an Kunst.« Endlich sagt’s mal einer.
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