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Analyse warnt vor rechten Angriffen auf Gerichte
Projekt »Verfassungsblog« zeigt erhebliche Risiken für die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland
Im September 2024 versank die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtages im Chaos, als Alterspräsident Jürgen Treuler (AfD) die Abstimmung zur Wahl eines Landtagspräsidenten verweigerte. Es kam zu Unterbrechungen, hitzigen Diskussionen und Wortgefechten, bis die Sitzung abgebrochen wurde. Erst nach der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs in Weimar konnte sich der Landtag später eine neue Geschäftsordnung geben. Die AfD beschuldigte das Gericht, das Urteil aus politischem Kalkül gefällt zu haben.
Vor einem solchen Szenario hatte bereits der Gründer des Diskursportals »Verfassungsblog«, der Jurist Maximilian Steinbeis, in seinem mehrfach ausgezeichneten »Thüringen-Projekt« gewarnt. Auch die Blockade von Richterwahlen durch eine Sperrminorität der AfD stand im Fokus seiner Analysen. Nach Abschluss des Projekts hat der »Verfassungsblog« seinen Untersuchungsgegenstand erweitert und fragt im bundesweiten »Justiz-Projekt«: »Wie verwundbar ist die rechtsprechende Gewalt in Deutschland?« Die Ergebnisse, die das 14-köpfige Team zusammentrug, sind nun als Buch und zum Download verfügbar.
Die Erkenntnisse zur »Verwundbarkeit und Resilienz der dritten Gewalt« will das Team nicht allein auf die AfD fokussiert verstanden wissen. Doch mit Umfragewerten auf ungebrochen hohem Niveau ist die Partei der Elefant im Raum – vor allem angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.
Das deutsche Justizsystem sei wesentlich anfälliger für Einflussnahmen, als bislang angenommen wurde, heißt es in dem Bericht. Dies gelte besonders angesichts des globalen »Democratic Backsliding«, des schrittweisen Abrutschens demokratischer Institutionen und Verfahren in autoritäre Strukturen, wie die Autor*innen schreiben.
Insgesamt identifiziert das Team mehrere Punkte, an denen autoritäre Kräfte die Justiz strategisch schwächen können, darunter strategische Ernennungen und Beförderungen, Disziplinarverfahren oder die IT-Infrastruktur. Verwundbarkeiten des deutschen Justizsystems ergäben sich aber auch durch die jeweiligen Haushalte, die in den Parlamenten beschlossen werden.
Als strategisches Ziel autoritärer Populist*innen sehen die Autor*innen vor allem die Landesverfassungsgerichte. Obwohl zentral für die deutsche Rechtsprechung, sind sie in der Öffentlichkeit kaum sichtbar – eine schlechte Voraussetzung für gesellschaftlichen Rückhalt wie im Angriffsfall von 2024 in Thüringen.
Um die Widerstandsfähigkeit zu stärken, seien die Kultur und das Personal an den Gerichten entscheidend. Bei der parlamentarischen Blockade von Richterernennungen durch eine Sperrminorität plädiert das Team für Vorschläge des Verfassungsgerichts, über die der Landtag mit einfacher Mehrheit entscheiden kann. Alternativ empfiehlt das »Justiz-Projekt« ein Ersatzgremium aus hochrangigen Justizpersönlichkeiten. Das Team betont seine Überzeugung, »dass es in Zeiten autoritärer Bedrohungen unverzichtbar ist, Wissen zu generieren und einer breiten Öffentlichkeit frei zugänglich zu machen«.
Fast zeitgleich bestätigt der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke diese Einschätzung: Mit Verweis auf eine Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs zum »Thüringer Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst«, das etwa Rechtsextremen den Zugang zum juristischen Staatsdienst versperrt, sprach Höcke in der Landespressekonferenz am Dienstag von einem drohenden »Gesinnungsstaat«. In diesem seien Jurist*innen einem enormen »Konformitätsdruck« ausgesetzt. Höcke kritisierte auch die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs und griff dessen den Präsidenten persönlich an.
Die jüngste Höcke-Attacke ist ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr die Justiz im Fokus extrem rechter Begehrlichkeiten steht – nicht nur in Thüringen. Und das ist ein weiterer Grund, dem Team des »Verfassungsblogs« aufmerksam zuzuhören, um zu handeln, bevor es zu spät ist.
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