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AWO: »Nicht auf dem Rücken der Ärmsten sparen«
AWO-Vorstand Marvin Deversi fordert einen Ausbau des Sozialstaats und die Besteuerung großer Vermögen
Sie fordern, den Sozialstaat auszubauen statt zu kürzen. Ist das in diesen Zeiten überhaupt möglich?
Ja, das ist möglich. Die Erzählung, nach der die Kosten für den Sozialstaat aus dem Ruder laufen, hält sich zwar hartnäckig, bleibt aber falsch. So ist etwa der Anteil der Ausgaben, die der Bund für Soziales, Familie und den Arbeitsmarkt tätigt, zwischen 2017 und dem laufenden Jahr um knapp fünf Prozentpunkte zurückgegangen. Die Sozialausgaben liegen damit deutlich unterhalb des Schnitts der vergangenen zehn Jahre. Von einer »Kostenexplosion« kann nicht die Rede sein. Davon abgesehen müssen wir die Debatte um den Ausbau des Sozialstaats ganz anders führen. Ein gut ausgestatteter Sozialstaat ist kein Luxus, sondern ein Standortfaktor. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wirkt nachweislich positiv auf den Erfolg der Wirtschaft.
Wozu braucht es heute Investitionen für Soziales und Arbeit?
Zunächst einmal wäre es schön, wenn die Bundesregierung die Mittel, die sie für uns einsetzt, als notwendige Investitionen begreifen würde. Denn: Auch die soziale Infrastruktur leidet unter einem riesigen Investitionsstau. Das ist bei uns nicht anders als in der Verkehrs- oder Gebäudeinfrastruktur. Der große Unterschied dabei: Die soziale Infrastruktur wird zu großen Teilen von gemeinnützigen Akteur*innen wie der AWO getragen. Wir halten Gewinne aus unserer Arbeit heraus, weil sie im Sozialen nichts verloren haben. Dadurch sind wir aber für die Sanierung, die Instandsetzung und den Ausbau unserer Angebote umso mehr auf verlässliche öffentliche Förderungen angewiesen.
Wie sieht es mit Streichungen und Sanktionen beim Bürgergeld aus?
Im Zuge der Finanzierungsdebatten muss eines klar sein: Die Lücken im Bundeshaushalt dürfen nicht auf dem Rücken der Ärmsten zusammengespart werden. Wir lehnen die Pläne für die »Neue Grundsicherung« daher ab. Was Menschen, die keine Arbeit haben, wirklich brauchen, ist gezielte Unterstützung. Die Verschärfungen bei den Sanktionen bis hin zur Kürzung der Mietkosten schüren nur Misstrauen und Ängste. Das ist kontraproduktiv. Außerdem zeigen ja die Berechnungen des Sozialministeriums selbst, dass das Einsparpotenzial sich in engen Grenzen hält. Wir reden hier nicht von zweistelligen Milliardenbeträgen, sondern von einem zu vernachlässigenden Millionenbetrag. Erfolgversprechender wäre es aus unserer Perspektive, die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften anzugehen, wenn man wirklich daran interessiert ist, die Staatsfinanzen zu konsolidieren.
Sie sind ein Kind des Ruhrpotts, in Bochum aufgewachsen. Inwieweit hat der Sozialstaat Sie selbst geprägt?
Ich komme aus einem früheren Arbeiterviertel, bin mit den Demonstrationen gegen die Schließung des Bochumer Opel-Werks aufgewachsen. Kostenfreie Angebote für Jugendliche, wie sie die AWO bei uns angeboten hat, haben mir viele wichtige Erfahrungen ermöglicht. Später habe ich einen sozialen Aufstieg erleben dürfen, der ohne den Sozialstaat nicht denkbar gewesen wäre.
Marvin Deversi, geboren 1991 in Bochum, ist promovierter Volkswirt und seit November 2024 einer der beiden Vorstandsvorsitzenden beim Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Wie stehen Sie als AWO-Bundesverband zu den provokativ-rassistischen Äußerungen von Friedrich Merz?
Sie spielen auf die »Stadtbild-Debatte« an, die der Bundeskanzler losgetreten hat. Für die AWO und für mich persönlich ist eines unumstößlich klar: Migrant*innen und Geflüchtete gehören so selbstverständlich zu unseren Städten und Gemeinden wie Sie und ich. Dass der Bundeskanzler mit dieser Wortwahl so viel Verunsicherung bei Betroffenen in Kauf genommen hat, werfe ich ihm vor. Ich wünsche mir, dass wir wegkommen von diesen nervös geführten Debatten, die am Ende nur spalten.
Inwieweit erleben Sie und Ihre Mitarbeiter*innen in den Landes- und Bezirksverbänden den Rechtsruck in der Gesellschaft?
Wir erleben in der AWO landauf, landab, wie der Rechtsruck das Leben in den Quartieren verändert. Vor ein paar Monaten wurde eine Fahrradwerkstatt der AWO in Magdeburg niedergebrannt, wo Ehrenamtliche mit und ohne Migrationsgeschichte alte Fahrräder herrichten, für Jugendliche und Menschen mit wenig Geld. Am Tatort fanden die Kolleg*innen Hakenkreuze und andere Nazi-Symbolik vor. Wir hatten das Projekt erst Anfang des Jahres mit dem Lotte-Lemke-Engagementpreis der AWO ausgezeichnet. Leider ist das kein Einzelfall. Wir stellen unseren Haupt- und Ehrenamtlichen aufgrund dieser Entwicklungen verstärkt Informationen und Unterstützungsangebote zum Umgang mit menschenfeindlicher Gewalt zur Verfügung. Wir nehmen diese bedenklichen Entwicklungen sehr ernst und wissen uns auf jeden Fall zu wehren.
Vor welchen weiteren Herausforderungen stehen die Arbeiterwohlfahrt und andere soziale Träger?
Fragen Sie lieber, vor welchen Herausforderungen wir nicht stehen! Nein, im Ernst: Von der zeitgemäßen und klimagerechten Sanierung unserer Liegenschaften über den Fachkräftemangel in der Pflege bis hin zum Einsatz von KI in der sozialen Arbeit – es ist wirklich viel zu tun. Die vielleicht größte Herausforderung dabei ist, Innovationskraft mehr denn je in den Fokus zu rücken. Denn was all diese Probleme eint, ist die Tatsache, dass wir sie nur mit innovativen Ansätzen lösen können.
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