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Die Liebe und die Heiligen Schriften

Das Hohelied in neuer Nachdichtung

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 2 Min.

»Er hat ins Weinhaus

mich geführt,

dessen Schild über mir

heißt: Liebe.

O stärkt mich mit Obstkuchen,

bettet mich unter Apfelbäumen,

denn krank vor Liebe bin ich!

Seine Linke unter meinem Kopf,

und seine Rechte,

die soll mich umfangen …«

Und sowas steht in der Bibel! Ein solcher Gesang des weiblichen Begehrens! Millionen, Milliarden, Abermilliarden Menschen in aller Welt haben über Jahrhunderte, ja Jahrtausende »Das Lied der Lieder von Schelomo« gelesen oder gehört – atemlos, mit heimlichem Erröten. Sie verstanden es wohl und akzeptierten doch, wenn man ihnen sagte, nicht von Mann und Frau, sondern von Gott und den Menschen, nicht von irdischer, sondern von himmlischer Liebe sei hier die Rede.

Gespaltenes Bewusstsein – wozu es gut sein kann! Als erotische Gedichte hätten die Texte schwerlich im Kanon der Heiligen Schriften Platz gefunden. Durch religiöse Deutung wurden sie gleichsam auf einen Sockel gehoben, wo sie zu bewundern waren in ihrer eigenen Gestalt, die ihnen ja nicht zu nehmen war. Die Ausgabe aus dem vor Kurzem gegründeten Verlag der Weltreligionen beruht auf einer neuen, überaus lebendigen Nachdichtung von Stefan Schreiner und ist mit 32 illuminierten Seiten aus dem »Machsor Lipsiae« ausgestattet, der Handschrift eines jüdischen Gebetbuchs für die Feste des gesamten Jahres, die heute zu den Schätzen der Leipziger Universitätsbibliothek gehört. Hervorzuheben ist das ausführliche Nachwort von Stefan Schreiner, Professor für Religionswissenschaft und Judaistik an der Universität Tübingen, der die einzelnen Texte analysiert und einen Überblick über ihre Auslegungsgeschichte gibt.

In seiner Ansicht folgt er Johann Gottfried Herder, »daß wir es bei diesen Liebesliedern mit einer eher zufälligen als planvollen Sammlung profaner Liebeslyrik aus dem alten Israel zu tun haben, die nur dann recht verstanden werden kann, wenn man die einzelnen Lieder in ihrer jeweiligen Individualität, die sie infolge ihrer Form wie auch ihres Inhalts durchaus für sich in Anspruch nehmen dürfen, beläßt und sie als poetische Äußerung des liebenden Herzens erkennt und anerkennt«.

Das Hohelied. Lied der Lieder von Schelomo. Aus dem Hebräischen übersetzt, nachgedichtet und herausgegeben von Stefan Schreiner. Verlag der Weltreligionen. 119 S., 32 farb. Tafeln, brosch, 10 EUR.

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