Hoffnung auf eine Kehrtwende bei Privatisierungen

Leipzigs Bürger entscheiden am Sonntag über einen Anteilsverkauf der Stadtwerke / Querelen zwischen SPD und CDU

  • Hendrik Lasch, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.
In Leipzig gibt es am Sonntag erstmals einen Bürgerentscheid. Ein Bündnis will verhindern, dass kommunale Betriebe privatisiert werden. Derweil wackelt die Ratsmehrheit für den Teilverkauf der Stadtwerke.

Der Tag nimmt kein Ende: Abends um elf geht Mike Nagler noch zur »Mitternachts-Sprechstunde«. Im Büro der Leipziger Grünen soll er Bürgern, die wegen ungünstiger Arbeitszeiten sonst keine Gelegenheit haben, Auskünfte zum bevorstehenden Bürgerentscheid geben. Regen Andrang erwartet Nagler nicht; trotzdem geht er hin. Soll hinterher keiner sagen, man hätte nicht alles versucht.

Am Sonntag ist Bürgerentscheid in Leipzig – zum ersten Mal seit 1989. Rund 412 000 Bürger sollen darüber abstimmen, ob die Privatisierung von kommunalen Betrieben für die nächsten drei Jahre unterbunden werden soll. Für Nagler ist das die Krönung vieler Wochen harter Arbeit: Der 28-jährige Bauingenieur gehört zu den Gründern einer Initiative, die sich gegen den Ausverkauf städtischen Eigentums wendet. In seiner Diplomarbeit hat er sich mit dem Verkauf der WOBA in Dresden befasst; jetzt folgt in seiner Heimatstadt der Praxistest.

Um welchen Betrieb es in Leipzig gehen würde, war den Gewerkschaftern, Politikern und Wissenschaftlern im Anti-Privatisierungs-Netzwerk Leipzig (kurz: April) lange unklar; von Wohnungsgesellschaft bis zu den Verkehrsbetrieben nannte das Rathaus ständig neue Kandidaten. Nun sollen 49,9 Prozent der Stadtwerke, die für die Strom- und Wärmeversorgung zuständig sind, verkauft werden. Der französische Energiekonzern Gaz de France hat 520 Millionen Euro geboten – ein unwiderstehliches Angebot, meint Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD).

Nagler hält die Privatisierung für falsch, nicht nur, weil die Stadtwerke zuletzt im Jahr 54 Millionen Euro Gewinn erwirtschafteten – Geld, das zur Stützung des Nahverkehrs eingesetzt wurde. Das Netzwerk tritt generell dafür ein, Aufgaben der Grundversorgung in der Regie der Kommune zu erledigen. Viele der Privatisierungen, die in den 90er Jahren enthusiastisch vollzogen wurden, hätten inzwischen ihre Nachteile offenbart, sagt Nagler und verweist auf eine gegenläufige Tendenz: Nicht wenige Städte kauften inzwischen ihre einst verscherbelten Unternehmen zurück. Nagler spricht von einer »Welle der Re-Kommunalisierung« und sieht den Leipziger Bürgerentscheid als wichtiges Signal dafür. »Wenn das klappt«, sagt er, »sorgt das bundesweit für Aufsehen.«

Erstmal freilich muss es klappen. Die Hürden sind hoch: Nicht nur muss eine Mehrheit dafür stimmen, Privatisierungen auf Eis zu legen; sie muss auch ein Viertel der Wahlberechtigten ausmachen. Um die nötigen 103 000 Ja-Stimmen zu mobilisieren, eilt Nagler vom Studio des Lokalradios »mephisto« zum Journalistengespräch, moderiert am Abend eine Diskussion und geht dann zur Nachtsprechstunde. Derweil sitzt sein Sprecher-Kollege Wolfgang Franke beim »Bürgerverein Waldstraßenviertel« und erklärt, es sei sinnvoller, wenn »die Gewinne der kommunalen Betriebe in Leipzig bleiben und nicht in Paris oder Brüssel eingestrichen werden«.

Zu der Runde, die der Ingenieur Franke mit zwei Verkaufsbefürwortern aus den Ratsfraktionen von CDU und SPD bestreitet, sind nur ein Dutzend Zuhörer gekommen. Trotzdem könnte es zum Erfolgsrezept für das Netzwerk werden, dass auf die Stadtteil-Vereine und andere Bürgergruppen ebenso gesetzt wurde wie auf die Hilfe von Gewerkschaften und Parteien wie LINKE und Grüne; schließlich ist eine hohe Beteiligung bei der Abstimmung entscheidend. Nicht von Nachteil ist es zudem, dass es gelungen ist, Risse in der Front der Verkaufsbefürworter zu offenbaren. Im Stadtrat hatten vor allem die Sozialdemokraten um OB Jung und die CDU für den Verkauf votiert. Auf den Plakaten der Bürgerinitiative, von denen 6000 geklebt wurden, wirbt aber auch Cornelius Weiss, Ex-Fraktionschef der SPD im Landtag und ehemaliger Rektor der Universität, für ein Verbot von Privatisierungen. Dass aus seiner Partei nun sogar gefordert wird, Weiss solle sein Mandat abgeben, zeigt, wie ärgerlich dessen Engagement für die Leipziger SPD ist.

Diese hat zudem nicht nur mit internen Konflikten zu kämpfen. Zunehmend gibt es auch Zerwürfnisse mit der CDU. Diese kritisiert seit langem, dass Jung unter dem öffentlichen Druck von früheren Plänen abrückte, auch weitere Unternehmen zu verkaufen. Nun eskaliert der Streit. Weil der Erlös nicht komplett in die Schuldentilgung fließen soll und nicht auch für »Verlustbringer« wie den Nahverkehr private Teilhaber gesucht würden, wird die Zustimmung im Stadtrat zur Disposition gestellt. Die Gremien der Partei wollten darüber gestern Abend beraten.

Derweil hoffen Mike Nagler und seine Mitstreiter, dass Leipzig am Sonntag seinem Ruf als Bürgerstadt gerecht wird und genug Einwohner zur Abstimmung gehen – obwohl Zeitungen wie die »Financial Times« und SPD-Bundesumweltminister Gabriel den Verkauf bereits als vollzogen vermeldeten. Sie müssen sich am Montag womöglich korrigieren. Foto: Lasch

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