Lebenslügen und Wortwelten

Todd Haynes' Kinofilm »I’m Not There« ist inspiriert von Musik und Leben Bob Dylans

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer glaubt, hinter dem Anglizismus »Biopic« verberge sich ein Schwein vom Ökobauernhof, der irrt. Denn Schwein (pig) schreibt sich ja mit »g«. Vielmehr verstehen Cineasten unter dem Wort »Biopic« Spielfilme (pictures), die sich der Biografie eines prominenten Zeitgenossen nähern. Auch Todd Haynes’ Film »I’m Not There« wird unter dem Genre des »Biopic« geführt, denn offenkundig wurde er vom Leben und der Kunst des Musikers Bob Dylan inspiriert. Das steht (laut Presseheft) sogar im Vorspann: »Inspired by the music & many lives of Bob Dylan«. Es mag meiner Unaufmerksamkeit geschuldet sein, aber ich könnte schwören, auf der Leinwand nicht »lives«, sondern »lies« gelesen zu haben.

Seltsam, dass im Englischen das Leben von der Lüge nur durch einen einzigen Buchstaben unterschieden ist. Seltsamer noch, dass es sich mit der Welt und dem Wort ganz genauso verhält. In einer Szene des Films wird der gelangweilte Star auf einer Pressekonferenz von einem aufgeregten Journalisten gefragt, ob er glaubt, mit seinen Songs die Welt (the world) verändern zu können. Mit gespieltem Erstaunen fragt er missverständnisvoll zurück: »Change the word?«

Ein »Biopic« über den ausgemachten Lebenslügner und Wortweltler Bob Dylan zu drehen, ist ein unmögliches Unterfangen. Dass es Todd Haynes auf eine ureigne und hochkomplexe Weise dennoch gelungen ist, liegt nicht zuletzt daran, dass der Name Bob Dylan in den kompletten 135 Filmminuten nicht ein einziges Mal fällt. Statt eine chronologische oder sonstwie lineare Geschichte zu erzählen, verschachtelt Haynes sechs scheinbar voneinander unabhängige Episoden mit jeweils verschiedenen Dylan-Darstellern (und einer Darstellerin) zu einer bezugsreichen Leinwandcollage, einer Melange aus dokumentierender Fiktion und – in Form von nachgestellten Interviews – fiktiver Dokumentation.

Dylan-Liebhaber und Film-Enthusiasten werden beglückt sein, denn in diesem Werk gibt es garantiert auch beim x-ten Anschauen noch viel Neues zu entdecken. (Zum Beispiel die tiefere Bedeutung der zweiten von »sieben einfachen Regeln des Untertauchens«: »Nimm dich vor Enthusiasmus und Liebe in Acht. Beide sind vorübergehend und verblassen schnell.«) Wer aber ungern mit der Lupe ins Filmtheater geht, sprich: Wer intelligente Unterhaltung mehr schätzt als erhellende Irritation, der wird enttäuscht sein. Denn was es hier zu bewundern gilt, ist Kunst. Kino ist es kaum.

Was Haynes geschaffen hat, ist mehr Wort als Welt, mehr Lüge als Leben – und wird Bob Dylan gerade deshalb gerecht. Wie keine andere Figur der Popgeschichte war und ist Dylan darauf bedacht, Eindeutigkeit zu vermeiden. Wann immer man ihn festnageln wollte, hat er den Nagel elegant entgleiten lassen und dafür gesorgt, dass der Hammer den Finger des Nagelnden trifft. Als er zum Rädelsführer der Protestbewegung ernannt wurde, hat er sich dieser Rolle durch provozierende, extrem antipolitische Äußerungen entwunden. Als er zur Ikone der Folkmusik stilisiert wurde, hat er sein Publikum mit elektronisch verstärkter Rockmusik geschockt. Im Film lässt Todd Haynes den Musiker und seine Band unter dem Jubel der Massen die Bühne des New England Jazz & Folk Festivals betreten. Aus ihren Instrumentenkoffern holen sie Maschinengewehre und ballern ohne Vorwarnung in die verstörte, gewaltsam ihrer Selbstsicherheit beraubte Menge.

Größtmögliche Eindeutigkeit ist Bedingung für glaubwürdige Politik und Grundlage dokumentierender Geschichtsschreibung. Größtmögliche Mehrdeutigkeit ist Bedingung für wahrhaftige Dichtung und Grundlage geistreicher Geschichtenerzählung. Die Maßstäbe »Lüge« und »Wirklichkeit« taugen nicht dazu, Kunst zu beurteilen. In ihrer mannigfachen Deutbarkeit liegt das weltenerweiternde Potenzial der Worte.

Dylans geglückter Versuch, stets als wandelbarer Künstler, niemals aber als biografierbare Person wahrgenommen zu werden, hat ihm glühende Verehrer und erbitterte Feinde beschert. Durch permanente Selbstverkunstung (oder -verleumdung) ist es Dylan gelungen, sich unangreifbar zu machen durch jene, denen die Person des Künstlers mehr gilt als seine Kunst. »Nicht ich finde die Songs«, beharrt eine der Dylan-Figuren im Film, »die Songs finden mich«. People-Journalisten und Paparazzi-Schmeißfliegen haben längst all ihre Hochglanzmagazine auf Dylan leergefeuert – ohne dass es ihnen gelungen wäre, ihn je zu treffen.

Mehr Aussicht auf Erfüllung haben diejenigen, die in Dylans Kunst nach Grund tauchen und ihn selbst nicht als Schöpfer, sondern als Teil der Schöpfung fassen. Dass Haynes das Wunder vollbrachte, Dylans Einverständnis für seinen Film einzuholen, mag damit zusammenhängen, dass der Regisseur den Künstler während der kompletten Produktion nicht ein einziges Mal zu sprechen wünschte.

Die in Haynes’ Film auftreten, sind Märchenfiguren, die Dylans Wort-Welt-Musik und seinen vielen Lebens-Lügen entsprungen sein könnten: der von Marcus Carl Franklin gespielte 11-jährige Blues-Sänger Woody Guthrie (Namensvetter des musikalischen Übervaters Dylans), der als blinder Passagier in Güterwagen quer durch Amerika reist und dessen Wunsch es ist, mit seinen Liedern so berühmt zu werden wie Elvis Presley. Der sich als Arthur Rimbaud – »Ich ist ein Anderer« – vorstellende Dichterphilosoph (Ben Whishaw), der sich in einer kafkaesk-unbestimmten Verhörsituation dazu erklärt, das Schreiben eingestellt zu haben und sich dagegen verwahrt, Fatalist zu sein: »Ich bin Farmer«. Der aufgehende Folk-Stern Jack Rollins (Christian Bale), der sich im Zenit des Erfolgs gegen seine piefigen Verehrer wendet, zurückzieht und später als Priester noch einmal kurz aufleuchtet. Der zwischen Charmeur und Macho changierende Schauspieler Robert Clark (Heath Ledger †), der in seinem Durchbruchsfilm ebenjenen Jack Rollins verkörpert und später im wirklichen Leben beim Balanceakt zwischen Ruhm und Familie das Drahtseil unter den Füßen verliert. Der seinen Nihilismus pflegende Folk-»Judas« Jude Quinn (Cate Blanchett), der sich im Strudel aus götterhafter Verehrung und teuflischem Hass seines Publikums zu verlieren droht und allein in dem Beat-Poeten Allen Ginsberg (David Cross) einen gelassenen Verbündeten findet. Schließlich der aufrichtige Outlaw Billy the Kid (Richard Gere), der erst angesichts des Abrissurteils gegen das Western-Dorf Riddle sein Versteck im Walde verlässt und noch einmal gegen die Obrigkeit aufbegehrt, aber verhaftet wird – und wieder flieht. In einem Güterwagen. Im Schlussbild, das diese Flucht illustriert, sieht man den echten (?) Bob Dylan zum ersten und einzigen Mal. Zum Rhythmus des Räderrollens bläst er die Mundharmonika.

Die Darsteller, auch die Nebendarsteller (besonders Charlotte Gainsbourg als Roberts Ehefrau Claire und Bruce Greenwood als Quinns journalistischer Antipode), beherrschen ihr Handwerk und leisten zum Teil Beeindruckendes. Bei zwei von ihnen aber zwingt uns der Regisseur zu genauerem Hinsehen: Der Kinderdarsteller Marcus Carl Franklin ist – anders als Dylan, anders auch als der verbürgte Woody Guthrie – ein Afroamerikaner. Und Cate Blanchett ist – auch mit Hemdkragen, Manschettenknöpfen und dauerqualmender Zigarette im Mundwinkel – nun, eine Frau. Beides leuchtet im artifiziellen Gesamtkonzept dieses Films durchaus ein. Da Dylan (unter anderem) ganz Amerika verkörpert, ist er auch Frau und Schwarzer; wenn man so will, auch Hillary Clinton und Barack Obama. Trotz aller Vorschusslorbeeren aber (Auszeichnung als beste Darstellerin! in Cannes) und obwohl es vielleicht genau so sein soll, wirkt die/der androgyne Blanchett in ihrer/seiner Androgynität nur wie eine Parodie des Dylan, den sie/er spielt, während der lebenslustig unrealistische Franklin im Nu meine ganze Sympathie gewinnt.

Der Filmtitel »I’m Not There« ist ursprünglich der Titel eines Songs, den Robert Allan Zimmermann alias Bob Dylan schon 1956, im Alter von 15 Jahren, schrieb. Im Gegensatz zum Großteil der Dylan-Musik, die Todd Haynes’ Film in Original- und Cover-Versionen über seine volle Überlänge trägt, ist dieses Lied bis dato weitgehend unbekannt. Nicht einmal in dem 2004 erschienenen, 1152 Seiten dicken Band mit »sämtlichen Songtexten« ist es enthalten. Denn dieser Band versammelt »nur« die Dylan-Texte, die zwischen 1962 und 2001 entstanden oder erschienen sind.

Wer ein psychopathologisches Interesse am Fall Dylan/Zimmer- mann verspürt, dem sei abgeraten von diesem verrückten Bilderreigen. Wer indessen Lust auf einen überlangen Videoclip hat, der sollte ihn sich ansehen. Und dabei strafmildernd in Kauf nehmen, dass es sich eben »nur« um eine weitere Dylan-Fiction handelt. Um ein »Biopic«, das besser mit »Biofic« umschrieben wäre. Ohne weiteren Buchstaben – und ohne schweinische Assoziationen.

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