Schwung für die »soziale Abrissbirne«

Neuer Zyklus der Lissabonner Strategie eingeleitet / Paket zu Profitmaximierung und Abbau staatlicher Leistungen

  • Annette Groth
  • Lesedauer: 3 Min.
Auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates sollen im Rahmen eines »neuen Zyklus der Lissabon-Strategie« weitere »Reformen« beschlossen werden. Die Lissabon-Strategie vom März 2000 hat zum Ziel, die EU bis 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen.

Kritiker bezeichnen die Lissabon-Strategie als eine »europäische soziale Abrissbirne«, die den Konzernen Riesengewinne beschert, Arbeitsplätze vernichtet und den Einzelnen nicht nur neue Steuerlasten, sondern auch finanzielle »Eigenverantwortung« für die Alters- und Gesundheitsversorgung aufbürdet. Arbeitssuchende werden in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gezwungen, Länder mit den niedrigsten Sozialstandards werden offenbar in Europa beispielgebend. Europaweit werden Sozialleistungen bis an das Existenzminimum gedrückt. Mit Agenda 2010, Hartz IV, den Mini- und Ein-Euro-Jobs, der Rente mit 67, der Gesundheitsreform und der Abschaffung der Versteuerung von Gewinnen aus dem Verkauf von Unternehmensbeteiligungen hat Berlin die Lissabon-Vorgaben sehr gut erfüllt.

Im Dezember 2007 haben die EU-Regierungschefs einen »neuen Zyklus der Lissabon-Strategie« beschlossen. Als Bereiche für einen weiteren »Reformbedarf« werden neben dem viel beschworenen »Wettbewerb« und der Vollendung des Binnenmarkts auch die »Modernisierung der öffentlichen Verwaltung« und »Flexicurity« (dabei geht es darum, die Arbeitnehmer den jeweiligen Unternehmensinteressen »anzupassen«) genannt. Im Rahmen des »neuen Zyklus« sollen auch die öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) voran getrieben werden.

Worum es dabei geht, zeigt ein Beispiel: Im April 2007 wurde die Bertelsmann-Tochter arvato government services offizieller Partner der Stadt Würzburg für eine Neuausrichtung und Aufgabenverteilung der öffentlichen Verwaltung. Arvato kann dabei seine Erfahrungen aus Großbritannien verwerten, wo das Unternehmen 2005 die kommunale Verwaltung einer mittelgroßen Stadt mit 325 000 Einwohnern übernommen hatte. In East Riding hat arvato u.a. lokale Steuern eingezogen, Subventionen und Beihilfen ausgezahlt sowie die Lohn- und Gehaltsabrechnungen, das Management der 14 Bürgerbüros und das Bereitstellen der nötigen IT-Infrastruktur übernommen.

Bei den öffentlich-privaten Partnerschaften wird im Gegensatz zu den reinen Privatisierungsgeschäften nichts verkauft, sondern die öffentliche Hand verpflichtet sich, 20 bis 30 Jahre lang für die Nutzung eines Medienhauses, wie z.B. in Mülheim an der Ruhr, Miete zu zahlen oder sie muss für die Verwaltungsaufgaben, die sie an ein Unternehmen auslagert, Gebühren entrichten. Für den Privatisierungsexperten Werner Rügemer ist ÖPP keine »Partnerschaft«, sondern eine Gewinnversicherung für private Unternehmen.

Ergänzend zur Lissabon-Agenda ist die neue handelspolitische EU-Strategie »Globales Europa« zu sehen, die die Regierungschefs auf ihrer Sitzung im Juni 2007 unter dem Titel »Das globale Europa – Eine starke Partnerschaft zur Öffnung der Märkte für europäische Exporteure« verabschiedeten. Ungeschminkt enthüllt die EU dabei ihre Pläne zur Steigerung der externen Wettbewerbsfähigkeit. Dazu gehören die Sicherung der Rohstoffversorgung, eine stärkere Präsenz europäischer Unternehmen auf den Wachstumsmärkten, Erschließung und Liberalisierung der lukrativen Märkte für öffentliche Aufträge und letztendlich gesetzgeberische Maßnahmen, die den freien Handel so wenig wie möglich behindern.

Mit dem Vertrag von Lissabon, wird der neoliberale Umbau der westeuropäischen Sozialstaaten zementiert. Der Vertrag gibt der EU zudem mehr Zuständigkeiten in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, komplementär zu anderen Richtlinien sollen Überwachungsinstrumente und die polizeiliche Zusammenarbeit verstärkt werden. Eine zentrale Rolle dabei spielt der »grenzüberschreitende Informationsaustausch und der »Kampf gegen den Terrorismus«. Nicht überraschend, dass die Schwerpunktthemen der EU-Kommission 2008 Migration, die zu erwartenden »Reformen« im Rahmen der neu aufgelegten Lissabon-Strategie und die »flexicurity-Maßnahmen« sind.

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