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Unendlich ergreifender Anblick
Albrecht Schöne über Schillers Schädel und die Geschichten, die mit ihm verknüpft sind
Und dann, am siebenten Tag, die Überraschung. Goethe führt seinen Gästen Humboldt und Riemer einen mit Silber eingefassten Glaskasten vor. Auf seinem Boden, ausgelegt mit einem blausamtenen Kissen, ein Totenkopf: Schillers Schädel. Der Anblick, berichtet Humboldt seiner Frau, »bewegt einen gar wunderlich. Was man lebend so groß, so teilnehmend, so in Gedanken und Empfindungen bewegt vor sich gesehen hat, das liegt nun so starr und so tot wie ein steinernes Bild da. Goethe hat den Kopf in seiner Verwahrung, er zeigt ihn niemand. Ich bin der einzige, der ihn bisher gesehen, und er hat mich sehr gebeten, es hier nicht zu erzählen.«
Da ist Schiller schon über zwanzig Jahre tot. Er war am 9. Mai 1805 in seinem Haus an der Weimarer Esplanade gestorben und drei Tage später, nachts um eins, im Kassengewölbe auf dem Jakobsfriedhof bestattet worden. Thomas Mann hat den Vorgang 1955, am Beginn seines »Versuchs über Schiller« und der Rede, die er in Stuttgart und Weimar hielt, eindrucksvoll geschildert. »Es gab«, schrieb er, »kein schreckhaft mitternächtliches Läuten, das dumpf und schwer die Trauertöne schwellt. Die Glocken schwiegen ... Nichts hörte man als die schleppenden Tritte der Männer, die dann und wann ihre Last, die Bahre, den billig gezimmerten Sarg darauf, niedersetzten zu Rast und Ablösung ... Kein milder Laut von Musik, kein Wort aus Priester- oder Freundesmund, von Kranzspenden und Lorbeer nichts. Man liest, so ohne Umstände sei es brauchweise zugegangen damals in Weimar bei Bestattungen ...«
Welch ein Aufsehen dagegen zwei Jahre vorher, als man in Hamburg Klopstock zu Grabe trug, den gefeierten Autor des »Messias«. Glockenläuten überall. Überall Trauerflaggen, der Sarg mit Lorbeer geschmückt und die Straßen voll trauernder Menschen. Und nun dieser Kontrast. Seltsam die Hast, mit der man den Leichnam zum Friedhof bringt, so leise, so unauffällig wie möglich. Und wo ist Goethe gewesen? Goethe hat den toten Freund nicht begleitet. War es wirklich Krankheit, die ihn abhielt? (Er war, nebenbei, nie zugegen, wenn jemand begraben wurde, auch nicht, als seine Frau Christiane gestorben war. Charlotte von Stein hat sogar testamentarisch verfügt, ihren Leichnam ja nicht an seinem Haus vorbeizufahren.)
Später, lange nach diesem Mai 1805, kommen die Fragen. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, es sei damals nicht mit rechten Dingen zugegangen. Verdächtig der Verzicht auf jede Zeremonie und das Fehlen Goethes, der Obduktionsbericht womöglich eine Lüge. Die Sektion am Nachmittag des 10. Mai 1805 hat der Leibmedikus Dr. Huschke, assistiert von Dr. von Herder, vorgenommen und das Ergebnis im Schreiben an Herzog Carl August in elf Punkten zusammengefasst. Er hat die Befunde akribisch dokumentiert. »Bei diesen Umständen«, erklärt er anschließend, »muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können ...« Auch ein zweites Protokoll, das der Medizinalrat Langerhans schreibt, kommt, von winzigen Abweichungen abgesehen, zum selben Ergebnis. Vom ärztlichen Standpunkt, heißt es bei ihm, könne kein Zweifel bestehen, »daß Schiller an Lungenschwindsucht gestorben ist«.
Aber wer fragt schon nach medizinischen Fakten, wenn ein Skandal in der Luft liegt? Ein ganzes Jahrhundert lang sind's bloß Gerüchte, die bedeutungsvoll weitergesagt werden. 1910 jedoch erscheinen zwei Schriften, darunter eine Erzählung mit dem Titel »Schillers Ende«, die Spekulationen in gesicherte Tatsachen verwandeln. Und nun ist's nur noch ein kurzer Weg bis zu jener Schrift »Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, Mozart und Schiller«, die 1928 einen »Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte« verspricht. Urheberin des Werks ist Mathilde Ludendorff, die dritte Ehefrau des preußischen Generals, der 1914 die Schlacht bei Tannenberg gewann, 1916 Generalquartiermeister bei der Obersten Heeresleitung wurde und später, 1923, mit Hitler zur Münchner Feldherrnhalle zog. Mathilde, antisemitisch wie er, erklärt Schiller dreist zum Opfer der Freimaurer und ihrer »unsichtbaren Väter«. Die »unsichtbaren Väter« sind natürlich die Juden. Sie haben Schiller, den »volksverwobenen Freiheitskämpfer«, auf dem Gewissen. Tod durch Gift, sagt Mathilde Ludendorff. Und der von den Juden gefeierte Goethe hat von allem gewusst.
Die Fachwelt steht Kopf. Die Goethe-Gesellschaft beauftragt Max Hecker, der skandalösen Darstellung mit Fakten entgegenzutreten. Sein Buch »Schillers Tod und Bestattung«, 1935 im Leipziger Insel-Verlag erschienen, beginnt mit den Äußerungen der Zeitzeugen, liefert dann eine breite Sammlung aller Dokumente und schließt mit einem langen Aufsatz, der vor Empörung bebt und mit zuweilen donnerndem Pathos die Verfasserin, die er beim Namen nie nennt, in die Schranken weist. Er spricht von einem »furchtbaren Buch« und meint, als alle Zeugnisse versammelt sind, nirgendwo zeige sich »auch nur die leiseste Spur, daß die grausige Behauptung unserer Gegner zu Recht bestehe«. (Das Ludendorff-Werk mit seiner Schiller-Verherrlichung und Goethe-Verdammung war so starker Tobak, dass es nicht mal den Nazis richtig Freude bereitete. Goebbels ließ es 1936 sogar aus dem Verkehr ziehen.)
Albrecht Schöne hat die Geschichte jetzt in einer schmalen, faszinierenden Schrift umfassend beleuchtet und eindringlich erzählt. Schöne, der bei C. H. Beck in München schon zwei grundlegende Bücher über Goethe veröffentlicht hat und 1994 die gerühmte Faust-Edition der Frankfurter Goethe-Ausgabe besorgte, schreibt über Schillers Schädel und was dahinter steckte, dass Goethe sich diesen Schädel ins Haus holte. Es geht um Reliquienverehrung und naturwissenschaftliche Forschung, um Goethes Bemühen, in der dünnen Schale die geheimnisvollen Spuren des Lebens zu finden, und auch um all die Vorgänge, in die der tote Schiller irgendwann verstrickt worden ist.
Schon 1820 hat Charlotte von Schiller gewünscht, die Überreste ihres Mannes auf dem Weimarer Hauptfriedhof beizusetzen. Aber die Bergung aus dem Kassengewölbe, in dem sich die versenkten Särge stapeln, zieht sich noch über Jahre hin. Erst 1826, als kein Platz mehr für weitere Bestattungen ist, fängt man an, nach dem Sarg Schillers zu suchen. Ein schwieriges Unterfangen. In den modrigen Tiefen des Gewölbes ist die Auflösung weit fortgeschritten. Die Männer, die sich mit Hacken und Schaufeln durch den Verfall kämpfen, finden zerborstene Särge und verweste Leichen. Nur manchmal ein Schild, das die Identifizierung erleichtert. Sie bergen 23 Schädel, die Karl Leberecht Schwabe, Weimars Bürgermeister, in sein Haus bringen lässt. Dort stellt er sie nebeneinander auf. Der größte, sagt ihm die Eingebung, muss der Schädel Schillers sein. Die Abmessungen, mit dem Zirkel vorgenommen, stimmen mit der Tonbüste, die Klauer nach der Totenmaske geschaffen hat, überein. Drei Mediziner, die Schwabe zu Rate zieht, pflichten ihm bei.
Ein paar Monate danach hat man auch noch die restlichen Gebeine Schillers geborgen. Am 24. September 1826 lässt sich Goethe den Schädel bringen. Er wird gereinigt und dann im extra angefertigten Behältnis aufbewahrt. Erstaunlich: Ausgerechnet er, der Begräbnisse und Friedhöfe meidet, holt sich die Hirnschale des Freundes ins Haus. »Es ist ein unendlich ergreifender Anblick«, schreibt Humboldt, »aber doch ein sehr merkwürdiger.« Er und Riemer sind tatsächlich die Einzigen, die den Schädel zu sehen kriegen. Goethe spricht auch sonst nicht darüber. Das Tagebuch begnügt sich mit Andeutungen.
Er hat, sagt Albrecht Schöne, den Totenschädel nicht mit der Miene des Andächtigen, sondern mit den Augen des Osteologen betrachtet. Der Dichter, der den Zwischenkieferknochen entdeckte, der über Vergleichende Knochenlehre und Skelette der Nagetiere schrieb, interessiert sich brennend für die umstrittene Lehre des Wiener Arztes Franz Joseph Gall, der die geistigen Gegebenheiten eines Menschen, seine Begabungen und Neigungen, aus der Beschaffenheit der Großhirnrinde zu erklären sucht.
Etwa ein Jahr lang bleibt Schillers Schädel im Haus am Frauenplan, dann wird er in der Großherzoglichen Bibliothek aufgestellt und endlich, am 16. Dezember 1827, mit den Knochenresten in einen Eichensarg gelegt und in die fürstliche Begräbnisstätte gebracht. Am 26. März 1832 stellt man Goethes Sarkophag daneben. Doch die wechselvolle Geschichte der Reliquienverehrung ist damit noch nicht zu Ende. Im Dezember 1944 werden die beiden Särge, um sie vor Bombenangriffen zu schützen, nach Jena in einen Luftschutzbunker gebracht. Drei Monate später, im März 1945, kommt Hitlers Generalbefehl zur Zerstörung aller »Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes«. Der Jenaer Luftschutzarzt wird daraufhin angewiesen, auch die Sarkophage herauszugeben, aber er versteckt sie glücklicherweise so geschickt, dass der Sprengtrupp sie nicht findet.
Und noch einmal gibt's Aufregung um die prominenten Toten in der Fürstengruft. 1999, als man den 250. Geburtstag des Dichters feiert, bekommt die »Frankfurter Allgemeine« Wind von einem Vorgang, der bereits drei Jahrzehnte zurückliegt, aber verschwiegen wurde. 1970 hatten Experten bemerkt, dass der Sarg Goethes irgendwann aufgebrochen und nicht vorschriftsmäßig wieder verschlossen worden war. Der Verwesungsprozess im Innern hatte dadurch enorme Fortschritte gemacht, und man entschloss sich deshalb, den Leichnam zu mazerieren, also von den Weichteilen zu befreien. Man ging aus verständlichen Gründen so behutsam vor, dass kein Außenstehender, kein Weimar-Besucher etwas von der notwendigen Aktion bemerkte. Es wurde ein Protokoll angefertigt, das zu den Akten des Goethe-Nationalmuseums kam, und somit war der Ordnung Genüge getan. Erst die »FAZ« macht im März 1999 eine Staatsaktion der DDR daraus, ein dubioses Unternehmen, »ein Geheimnis, dem Verdächtigen benachbart«. Goethes Leichnam als Trophäe, ausgeliefert der Willkür der Machthaber. Nichts davon traf zu, aber es ließ sich prächtig verkaufen.
Es ist eine scharfsinnige und spannende Studie, die Albrecht Schöne hier vorlegt, ein exzellent argumentierendes Buch, das den christlichen Heiligen- und Reliquienkult genauso behandelt wie die Schädellehre des Franz Joseph Gall, Goethes naturwissenschaftliche Interessen und das naturphilosophische Gedicht »Im ernsten Beinhaus war's«, das gleich nach der ersten Begegnung mit dem Totenschädel entstand. Goethe zweifelte nicht daran, dass es Schillers Schädel war, den er betrachtete. Freilich: Zweifel gab es immer wieder. 1883 geschah's zum ersten Mal, dass ein Anthropologe behauptete, Bürgermeister Schwabe habe sich damals geirrt. 1911 grub man aus dem Kassengewölbe noch einmal 63 Schädel aus. Darunter, hieß es hinterher, soll der wahre Schiller-Schädel gewesen sein. Wieder Dispute. 1961 nahm sich der Anthropologe Michail Gerassimow der ungeklärten Frage an. Er versah einen Abguss der Hirnschale mit wächsernem Kitt, den er in der berechneten Stärke der Weichteile auftrug. Der fertige Kopf gab Bürgermeister Schwabe Recht.
Aber auch das wissen wir nun: »In der Weimarer Fürstengruft, wo jetzt nebeneinander die Eichensarkophage Schillers und Goethes aufgestellt sind«, schreibt Albrecht Schöne, »befindet sich seit 1914, abseits und ohne Namensaufschrift, ein unscheinbarer Sarg mit diesem zweiten Schiller-Schädel und dem ihm zugeordneten Knochenresten ...« Eine DNA-Analyse könnte vielleicht ein für allemal klären, welches der echte Schädel ist. Es wird sie wohl nicht geben. Schließlich: Wie stünde man da, wenn keiner der richtige wäre?
Albrecht Schöne: Schillers Schädel. Verlag C. H. Beck. 110 Seiten, Broschur, 12 EUR.
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