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- Mythen über Wohnungslose
Wohnungslosigkeit: Warum das ganze Elend?
Eine Antwort auf diese Frage haben die meisten Menschen parat. Eine kleine Typologie falscher Erklärungen
»In Deutschland muss niemand auf der Straße wohnen. Der Staat kümmert sich um die Leute.«
Stimmt so eingeschränkt, dass es eigentlich wiederum nicht stimmt. Deutschland leistet sich zwar (gerade so eben noch) einen Sozialstaat, aber viele Menschen, die auf der Straße leben, haben hierzu faktisch keinen Zugang – auch wenn sie Anspruch auf Sozialleistungen hätten.
Geflüchtete, psychisch Kranke, Schwerstabhängige oder Personen, die vor Partnerschaftsgewalt fliehen: Um diese Menschen überhaupt zu erreichen, geschweige denn, ihnen eine Wohnung zu vermitteln, braucht es aufsuchende Sozialarbeit. Gerade diese Angebote kürzt der Staat gerade massiv zusammen, streicht sie häufig sogar ganz.
Schon vor den aktuellen Kürzungen setzte der Staat in seiner Verwaltung der Wohnungslosigkeit auf die unbezahlte Arbeit von Ehrenamtlichen und das Eintreiben von Spenden: Sämtliche Anlaufstellen für Wohnungslose sind schon lange so unterfinanziert, dass sie nur auf dieser Basis funktionieren können. Schließlich hat, wer Hartz IV bezieht, noch lange keine Wohnung, und wer seine Wohnung etwa durch Eigenbedarfskündigung verliert, dem vermittelt niemand einen Ersatz. Es gibt kein Recht auf Wohnen – und auch das »Menschenrecht auf Wohnraum« relativiert sich vollständig an der Eigentumsordnung. Damit ist immerhin allen, die es wissen wollen, eine Lektion in Sachen Rechtsidealismus erteilt. Aber eine Wohnung verschafft das erst mal niemandem.
»Die Leute sind selbst schuld.«
Stimmt nicht. Die Hauptgründe für Wohnungslosigkeit sind nachweislich strukturell, auf Platz eins steht der Wohnungsverlust durch Kündigung oder Räumungsklage. Sprich: Wenn jemand persönlich Schuld daran hat, dass Menschen auf der Straße leben, sind das Vermieter*innen.
Rücksichtslose Schuldzuweisung an die Schwächsten funktioniert trotzdem für viele Leute, und zwar nicht von ungefähr: Mit ihrer Legitimation der hiesigen Herrschaftsverhältnisse als »Survival of the Fittest« vertreten sie das klassische bürgerliche Menschenbild, demzufolge »der Mensch dem Menschen ein Wolf« ist. Und da steckt sogar eine Wahrheit drin, nur ganz anders als gedacht: Diese Menschenfeindlichkeit ist keine Naturgegebenheit, sondern ein Produkt, ja ein Erfordernis der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre eigene Brutalität verschleiern muss. Entsprechend entstand diese Ideologie in der frühen Aufstiegszeit des Bürgertums, dem 17. Jahrhundert, aus dem Zeitgeist destilliert und festgehalten von dem englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes.
Der Spruch erfreut sich zunehmender Beliebtheit, nachdem solche offene Menschenfeindlichkei im Zuge der »68er«-Ansätze für mehrere Jahrzehnte etwas in Verruf geraten war. Sprich: einer Phase, in der Leid und Missstände weniger als individuelles Versagen behandelt oder gar zur menschlichen Natur erklärt wurden, sondern auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückgeführt wurden. Diesem Spuk, der von den Linksgrün-Versifften der 1970er und 80er Jahre (man verwechsele sie nicht mit den Schwarz-Grünen von heute) sogar in die staatlichen Institutionen eingeschmuggelt worden war, setzt die politische Rechte allerdings derzeit sein endgültiges Ende.
»Die sollen mal arbeiten gehen.«
Diejenigen, die sich hier um die Ausbeutungsbereitschaft der deutschen Arbeiter*innenschaft sorgen, unterstellen hiermit erstens, dass die Löhne, die Unternehmen in Deutschland den Leuten zahlen, immer ausreichen, um die (mittlerweile ins Astronomische steigenden) Mieten zu zahlen. Schon mal den Begriff »Arbeitende Arme« gehört? Er kommt aus den USA, ist aber Realität auch im Niedriglohn-Paradies Deutschland. Interessanterweise existieren keine belastbaren Zahlen darüber, wie viele Wohnungslose erwerbstätig sind – der Staat erhebt dies nicht. Der jährlich veröffentlichte Wohnungslosenbericht der Bundesregierung etwa liefert zahlreiche demografische Daten und Ursachen des Wohnungsverlustes, informiert aber nicht, wie viele wohnungslose Personen einer Erwerbsarbeit nachgehen.
Zweitens unterstellt der oben genannte Ausbeutungsfetischismus, dass jede Person, die das möchte, einen Arbeitsplatz findet – ganz zu schweigen von einem geeigneten, also den körperlichen, psychischen und geistigen Bedürfnissen angemessenen. Drittens ist es tatsächlich ausgesprochen harte Arbeit, sich seinen Lebensunterhalt auf der Straße zusammenstoppeln zu müssen. Es ist ein Knochenjob mit Gefahr für Leib und Leben, der keiner 38-Stunden-Regelung unterliegt, ohne Krankenversicherung und Rentenansprüche.
Trotz dieser – und vielen anderen – haarsträubenden Ungereimtheiten ist der Ausspruch immer wieder auch von linksliberalen Bildungsbürger*innen zu hören, zu deren zentralen Privilegien es gerade gehört, sich Tätigkeiten aussuchen zu können, die nicht nur gut bezahlt, sondern auch noch sinnstiftend sind, und in denen man sich nicht körperlich total vernutzt. Schließlich: Einen beträchtlichen (und schnell steigenden) Anteil von Wohnungslosen stellen Rentner*innen.
»Das kann jedem passieren.«
Das ist nun wirklich gut gemeint, stimmt aber auch nicht. Die überwiegende Mehrheit der wohnungslosen Menschen – dies ist belegt – war bereits vorher arm, meist schon in der Herkunftsfamilie (die soziale Mobilität ist in Deutschland besonders niedrig). Überdurchschnittlich betroffen sind zudem Frauen oder trans Person, die Partnerschaftsgewalt erlebt haben und Geflüchtete, die ohnehin mittellos und marginalisiert sind. Die Vorstellung, dass alle gleichermaßen bedroht sind, auf der Straße zu landen, kommt mitfühlend daher und verurteilt zumindest nicht (offen). Doch letztlich ist auch dies eine Entlastungserzählung, weil sie die Klassenverhältnisse vertuscht.
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