Meinst Du, die Russen wollen Krieg?

Jewgeni Jewtuschenko, der »berühmteste lebende Dichter der Welt« (»New York Times« von 1999) wird heute 75

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie viele Tränen werden diese Augen geweint haben? Wie viele Gedanken sind hinter dieser hohen Stirn geboren worden? Wie viele Wahrheiten hat dieser Mund ausgesprochen, was hat er sich vielleicht versagt? Im Gesicht von Jewgeni Jewtuschenko kann man lesen, fast wie in seinen Büchern. Man sollte sie sich vielleicht noch einmal vornehmen, wenn man sie im Bücherschrank hat. Etwa »Beerenreiche Gegenden«, seinen ersten Roman, erschienen fast zeitgleich in den beiden Deutschländern Anfang der 80er Jahre (Im Westen hieß er »Wo die Beeren reifen«, im russischen Original »jagodnye mesta«). Dort zitiert er an einer Stelle Ziolkowski: »›All unser Wissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein Nichts im Vergleich mit dem, was wir niemals wissen werden‹. Das ist nicht traurig, Das ist schön. Wenn es die Unendlichkeit des Unerreichbaren gibt, hat auch das Wissen Hoffnung auf Unendlichkeit.«

Nicht im Unendlichen, aber knapp 250 Millionen Kilometer von unserem Mütterchen Erde entfernt, gibt es einen Asteroiden »4234 Evtushenko«, der 1978 nach diesem kosmischen Dichter aus der Sowjetunion benannt wurde. Im selben Jahr trat der Literaturnobelpreisträger Josef Brodsky aus der Amerikanischen Akademie der Künste aus, weil Jewtuschenko deren Ehrenmitglied wurde. Letzterer verlor beide Großväter bei den »Säuberungen« Stalins. Als junger Dichter lobpries er noch den Generalissimus (wie in seinem Land viele andere, wie in der jungen DDR Hermlin, Becher und etliche weitere).

»Ich habe immer gegen kommunistische Bürokraten gekämpft, aber ebenso wenig liebe ich Antikommunisten. Sie sind mindestens genauso dumm.« Einer der vielen Sätze des unangepassten Kommunisten, die er öffentlich geäußert hat, in Ergänzung zu seinen Gedichten und Romanen. Nach »Baby Jar«, dem Poem Jewtuschenkos, in dem er den deutschen Massenmord an ukrainischen Juden im Jahr 1941 in Bezug setzte zu Antisemitismus in der damaligen Sowjetunion, komponierte Schostakowitsch seine 13. Symphonie. Beginn von Jewtuschenkos Ruhm.

Der Dichter schreibt selbst seine Lebenserinnerung an der Schwelle zum neuen Jahrtausend auf: »Der Wolfspass« (der im zaristischen Russland den Aufsässigen ihre Unzuverlässigkeit bescheinigte). Er sagt dazu: »Die Autobiografie eines Dichters, das sind seine Gedichte. Alles Übrige sind nur Anmerkungen zu seiner Biografie.« Eine notwendige Ergänzung zu einem Dichterdasein zu Sowjetzeiten macht Jewtuschenko gleich selber: »Entweder er ging und druckte alles, was er wollte, im Westen, oder er blieb und schlängelte sich durch die Zensur wie durch einen Stacheldrahtzaun, in dem er Fetzen der eigenen Haut ließ.«

Jewtuschenko ging unter die Haut. Nicht nur zu Sowjetzeiten füllte dieser Mann ganze Sportstadien mit seinen Gedichten. Das scheint keine Systemfrage gewesen zu sein. Erst im vergangenen Jahr begeistert er die Moskauer Jugend, die sich längst im modernen Kapitalismus eingerichtet hat, mit seinen Texten zu einer Rock-Oper. Dabei wollte der »Poet der Fußballstadien« eigentlich nicht Dichter, sondern Fußballer werden, sollte gar Torwart der Mannschaft werden, in der ein Lew Jaschin damals nur Ersatztorwart war.

Jewtuschenko kennt keinen Ersatz zu seiner Dichtung, höchstens Ergänzungen. Im ND-Interview von 1994 (mit Hans-Dieter Schütt) zitiert er Brecht: »Das Thema der Kunst ist, dass die Welt aus den Fugen geriet ... Frieden mit der Welt zu machen, hieße, Frieden mit einer kriegerischen Welt zu machen.« Als das Weiße Haus in Moskau zu Beginn der neunziger Jahre beschossen wird, »schießt« er mit Gedichten zurück. Im Interview sagt er: »An die Wirkung von Poesie glauben, das heißt: Ein Laubblatt vom Hochhaus schweben lassen und auf das Echo des Aufpralls warten«. Drei Jahre probiert er es als Deputierter der Duma. Zum Kulturminister Russlands kann ihn Jelzin aber dann doch nicht überreden.

Bliebe von jedem Dichter nur eine Zeile, so wäre es bei Jewtuschenko für mich der Anfang seines Liedes: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« Wenn das Agitation ist, dann hat er es geschafft, mich – und viele andere – nachhaltig durcheinanderzuschütteln.

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