Bis heute ein geteilter Erfolg

Vor hundert Jahren wurde Robert Merle geboren

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.

Er hatte sich fest vorgenommen, 120 Jahre alt zu werden. Und mit 91 wirkte der französische Schriftsteller Robert Merle auf seine Besucher durchaus so, als sei das kein Problem. Da trieb er noch Sport und schrieb unentwegt weiter an seinem wohl größten Projekt, dem Romanzyklus »Fortune de France« über die Religionskriege des 16. Jahrhunderts und den Aufstieg Frankreichs zur europäischen Großmacht. 13 Bände sind es noch geworden, bis er am 28. März 2004 95-jährig verstarb. In gewisser Weise ist das letzte, 2003 erschienene Buch (dt. »Der König ist tot«) dennoch ein Abschluss geworden. Mit dem Tod von Kardinal Richelieu und König Ludwig XIII. beginnt die Ära des Sonnenkönigs. Dennoch wäre es gerade wegen des Grundthemas Merles, der Toleranz, interessant gewesen zu lesen, wie er den Royalismus seiner fiktiven Helden mit der späteren Hugenottenverfolgung Ludwigs XIV. unter einen Hut bekommen hätte.

Dass Merle gerade Ende der 70er Jahre von Gegenwartsthemen und Science-Fiction zur Historie wechselte, war wohl kein Zufall. Die Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Linken und die zunehmende Orthodoxie in den sozialistischen Ländern mögen ihn an religiöse Intoleranz und Verfolgung Andersgläubiger nach der Reformation erinnert haben. Dazu passt auch sein Austritt aus der Kommunistischen Partei nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan.

Der am 29. August 1908 in Algerien geborene Merle war nach Schule und Studium der Anglistik bis zum Zweiten Weltkrieg Lehrer. Gleich zu Kriegsbeginn geriet der Sohn eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Offiziers als Dolmetscher der Briten nach der Niederlage von Dünkirchen in deutsche Kriegsgefangenenschaft. Die Erfahrungen von Dünkirchen verarbeitete er unmittelbar nach dem Krieg in seinem ersten Roman »Wochenende in Zuydcoote« (dt. 1950), der mit dem angesehenen Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Im Hauptberuf lehrte Merle weiter als Anglist, zuerst an der Universität in Rennes, dann in Toulouse. In dieser Zeit schrieb er einen der wohl wichtigsten und umstrittensten Romane über die Täter der Nazidiktatur, die fiktive Autobiografie eines KZ-Kommandanten: »Der Tod ist mein Beruf« (dt. 1952). Während viele Franzosen dem Buch vorwarfen, es verharmlose die Nazimörder, erklärte »Die Zeit« damals das Buch zum »bösartigsten aller nach dem Kriege in Frankreich erschienenen deutschfeindlichen Hetzromane«. Eine ähnliche Debatte löste jüngst Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« aus.

Das Motiv des ganz normalen, wohlerzogenen Menschen, der bei entsprechendem historischem Umfeld im Dienste einer vermeintlich höheren Wahrheit zum Mörder werden kann, zieht sich durch das gesamte Werk Merles. Dabei nutzte er immer wieder das dramaturgische Hilfsmittel einer Inselsituation. Das beginnt mit der isolierten Gesellschaft von Meuterern eines Schiffes und Ureinwohnern im Roman »Die Insel« (dt. 1964) und geht über die Überlebenden eines Atomkriegs in »Malevil« (dt. 1975), bis hin zu den Passagieren eines von Terroristen entführten Flugzeugs in »Madrapour« (dt. 1984). Selbst die Uni Paris-Nanterre im Roman »Hinter Glas« (dt. 1972) über die Vorgeschichte des Mai 1968 erscheint als eine Art Insel.

Dabei bedient sich Merle ganz abseits aller ästhetischen Wenden und Moden einer ganz und gar traditionellen Erzählweise, die allenfalls in »Fortune de France« durch den Rückgriff auf die französische Sprache der Renaissance etwas gebrochen wird. Dieses ungebrochene Bekenntnis zum Durchschnittsleser mag zusammen mit seiner KP-Mitgliedschaft ein Grund dafür sein, dass sich seine Bücher zwar in Frankreich und in den osteuropäischen Ländern millionenfach verkauften, er aber seitens der Literaturkritik in seiner Heimat wiederholt Hiebe einstecken musste und in den Medien der alten Bundesrepublik meist verrissen wurde. Umgekehrt hatten offenbar die Literaturverantwortlichen der DDR mit dem Interesse des Schriftstellers für die Religionskämpfe früherer Tage ihre Probleme. Diese Romane erschienen zum Teil erst Jahre später nach der Wende.

Die 13 Bände seines Romanzyklus »Fortune de France« sind ebenso wie die meisten früheren Werke als Aufbau-Taschenbuch lieferbar.
»Der Tod ist mein Beruf« ist soeben als Hörbuch erschienen (Ohreule, Sprecher: Gunter Schoß, 4 CDs, ca. 19,95 €).

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