Brüderlichkeit in Rot

XV. Rohkunstbau in der Villa Kellermann in Potsdam

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie gut Arvid Boellert im Aufspüren von Löchern in Mahlzähnen ist, wissen vermutlich nur seine Patienten. Dass der Dentist in der Disziplin des Schlösser-Findens ein absoluter Könner ist, zeigt die 15. Ausgabe des Rohkunstbaus. Das in seinen Hochzeiten als die »Brandenburgische Documenta« gepriesene Kunstfestival ist in diesem Jahr erstmals in der Villa Kellermann am Heiligen See in Potsdam zu Gast. Das prachtvolle Anwesen blickt auf die spiegelglatte Wasseroberfläche hinaus wie einst das Lausitzer Wasserschloss Groß- Leuthen auf das benachbarte namenlose, aber nicht minder romantische Gewässer.

Vor zwei Jahren war Rohkunstbau aufgrund eines Besitzerwechsels in Groß-Leuthen heimatlos geworden. Als Ausweichspielstätte wurde Schloss Sacrow – ein weiterer Volltreffer für stadtflüchtige Berliner – auserkoren. Weil die Stiftung Schlösser und Gärten, die Sacrow verwaltet, offensichtlich nicht zu einer Wiederholung bereit war, musste Boellert aber auch in diesem Jahr wieder Schlösser suchen gehen. Die nun gefundene Villa Kellermann ist zwar das profanste der bisherigen Rohkunstbauten mit Wasseranbindung. Sie vermag aber mit ihrer harmonischen Fassade, ihrer bezaubernden Lage und auch ihrer Geschichte zu beeindrucken. Einst für den Zeremonienmeister am preußischen Hofe erbaut, diente die Stadtvilla später der Unterbringung königlicher Gäste. Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte etwa den Opernstar Geraldine Farrar hier untergebracht, um ihn nachts heimlich über den Heiligen See zum Marmorpalais rudern zu lassen. In den 20er Jahren residierte hier mit dem Nationalbänker Emil Wittenberg die Finanzwelt, in den 30er und 40er Jahren der militärische Adel. Die Rote Armee nutzte in der Zeit der Kapitulationsverhandlungen im nahegelegenen Cecilienhof das Gebäude und sorgte so für weltgeschichtliche Aufladung. Der Maler Otto Nagel und der Schriftsteller Bernhard Kellermann bekamen das Haus danach für die Tätigkeiten des Kulturbundes zur Verfügung gestellt.

Nach dem Schriftsteller heißt die Villa noch immer; auch das im Erdgeschoss ansässige Restaurant firmiert unter diesem Namen. Das Catering ist hier – anders als in Groß-Leuthen oder Sacrow, wo die Kunst- und Landschaftsreise manchmal wegen knurrender Mägen vorfristig beendet werden musste – gar kein Problem. Die überraschend kleinen und noch in spätsozialistischem Vernachlässigungszustand belassenen Räume belegen nun, dass Boellerts Fähigkeiten im Location-Finden höher einzuschätzen sind als das Vermögen, die richtigen Künstler auszuwählen. Zwar wird laut Konzept fleißig mit der Farbe Rot gearbeitet. Jose Noguero etwa baut ein verwinkeltes rotes Stellwandarrangement in eines der Zimmer, Bettina Pousttchi lässt per Videoprojektion rote Gebilde blubbern und Cornelia Renz schafft in roten Tönen schrille Märchenwelten, die sich zwischen Orgie und Konsumkritik nicht zu entscheiden vermögen.

Die Fragen: Warum hier? Warum jetzt?, die diesen Arbeiten gelten, stellen sich wenigstens bei Brigitte Waldach nicht. Die Berliner Künstlerin hat einen Raum zur weißen Isolierzelle umgewandelt. Mit roter Farbe sind auf Wand und Boden Auszüge von Briefen Gudrun Ensslins an ihre Schwester Christiane geschrieben. Silhouetten der beiden Frauen sind ebenfalls an der Wand angebracht. Die selbsternannte Stadtguerilla-Kämpferin und die Journalistin streben in dieser Darstellung auseinander. Dreh- und Angelpunkt ist das Leben im Gefängnis. »Ich renne täglich etwa 5 Stunden in der Zelle (5 Schritte) auf und ab, bloß um nicht zu frieren.«, ist in der blutroten Schreibschrift zu entziffern. Oft laufen Zeilen übereinander. Die roten Buchstabenrinnsale überlagern einander. Doch einzelne Worte wie Verrat, Recht, Solidarität ragen heraus und benennen den Kosmos der Gefangenen.

Waldachs Rauminszenierung ist sachlich-unterkühlt. Sie wird aber zum Ausgangspunkt einer emotional aufgeladenen Erinnerungsreise. Und immerhin wird die Brüderlichkeit der französischen Revolution zur Schwesterlichkeit verwandelt. Ein ironischer Kommentar zur Brüderlichkeit gelingt Jonathan Monk. Er stellt zwei fast gleichgroße Standuhren mit den Ziffernblättern zueinander auf. Die beiden großen Gehäuse ticken sich an. Die Zeiger sind aber zeitversetzt gestellt. Trotz der fast schon intimen Nähe gibt es also Differenz. Eher banal sind Marc Bauers Inszenierungen der Männlichkeit. Er malt Gruppenfotos Schweizer Jäger ab und kritzelt onanierende Männchen auf die Wand. Auch biedere Männlichkeit kann interessanter in Szene gesetzt werden.

Unbestrittener Höhepunkt des XV. Rohkunstbaus ist eine Videoarbeit. Guy Ben-Ner hat seine Familie gefilmt, wie sie sich IKEA-Wohnwelten aneignet. Mann, Frau und zwei Kinder hausen in dem industriellen Versprechen von Behaglichkeit, während Kaufinteressenten immer wieder ins Bild rücken. Nach kurzen Szenen über die Entfremdung einstmals Liebender in den bürgerlichen Lebenswelten treten die Kinder als fitte Guerilla-Generation auf. Sie lassen sich von ihrem Vater gerade noch das Konzept von Privateigentum erklären, um es dann zu verdammen. Unter einem Piratenbanner fordern sie munter zum Stehlen auf und distanzieren sich selbst von der Wohlstandsvermehrung durch Erben. »Erbe nicht, sondern stiehl, was du brauchst«, lautet ihre verblüffende Botschaft.

So ganz passt die Arbeit nicht an den bürgerlichen Ort. In der kuratorischen Reihe hätte man sie auch eher bei der Gleichheit oder der Freiheit als bei der Brüderlichkeit eingeordnet. Aber welche Ausstellung wird mit dem ihr vorangestellten Konzept schon in Deckung gebracht? Welcher Politiker erinnert sich an seine Wahlversprechen?

Der Rohkunstbau in der Villa Kellermann knüpft an vergangene Jahrgänge an. Geboten wird ein bunter Garten der Kunst, dem mehr Hege und Stringenz gut tun würden. Doch das eigentlich Interessante ist wie immer die sich trotz alledem herstellende Verquickung von Kunst und Umgebung.

XV. Rohkunstbau, Villa Kellermann, Mangerstraße 34-36, 14467 Potsdam. Bis 5.10., Do und Fr 14 bis 19 Uhr, Sa und So 12 bis 19 Uhr

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