Aggressive Patienten

Pfleger müssen Folgen des Jobabbaus ausbaden

  • Michael Sommer, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Gewalt gegen medizinisches Pflegepersonal hat auch gesellschaftliche Ursachen. Vertreter des Berufsverbandes fordern von den Pflegenden mehr politisches Bewusstsein.

»Kieferbruch«, sagt Krankenschwester Soon Schwertfeger trocken. In der zentralen Notaufnahme eines Hamburger Krankenhauses hatte ein Patient ihr ins Gesicht getreten. Sechs Wochen lang musste sie ein stützendes Drahtgerüst an ihrem Kinn tragen. »Eine schreckliche Erfahrung«, erinnert sich Schwertfeger.

Damit gehört die Krankenschwester zu einer unbekannten Größe im Gesundheitswesen: »Es gibt keine Zahlen zu Übergriffen von Patienten auf Pflegepersonal in Deutschland«, bekannte Prof. Dirk Richter, Qualitätsbeauftragter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Münster, am Samstag auf dem 6. Gesundheitspflege-Kongress in Hamburg. Gewalt in der Pflege war ein Schwerpunktthema des Kongresses, der vom Pflegemagazin »Heilberufe« in Kooperation mit dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sowie den Asklepios-Kliniken Hamburg veranstaltet wurde.

Werden Menschen pflegebedürftig, sind sie auf die Hilfe anderer angewiesen und müssen die eigene Unabhängigkeit ein Stück weit aufgeben. Dass sich Angst und Wut dann bis zur Aggression steigern, ist keine Seltenheit, weiß Dirk Richter. Studien zufolge haben in Großbritannien zwölf Prozent aller Pflegekräfte physische Gewalt gegen sich erlebt, in der Schweiz sogar 17 Prozent. Für Deutschland vermutet Richter ähnliche Zahlen. »Gar nichts« wisse man über die Häufigkeit von nicht-physischer Gewalt wie Beschimpfungen oder verbaler sexueller Belästigung.

Die Folgen können dramatisch sein: Neben Verletzungen wie Prellungen oder Kratzwunden treten häufig auch Burnout-Syndrome und posttraumatische Belastungsstörungen auf, die bis zur Berufsunfähigkeit führen können. Konkrete Hilfe bietet die Berufsgenossenschaft: In Deeskalationsschulungen können Pflegende lernen, auf Aggression angemessen zu reagieren und die Patienten mit ihren Ängsten ernst zu nehmen. Konflikte gezielt vermeiden – »das ist keine Zauberei«, so Richter.

So hilfreich Kommunikationsschulungen in der Praxis sind – dass mit ihnen allein den Ursachen für Gewalt in der Pflege wirksam begegnet werden kann, bezweifelt der Bundesgeschäftsführer DBfK, Franz Wagner. »Pflegende lieben ihren Beruf, aber sie hassen ihren Job«, brachte er die Situation auf den Punkt. In den vergangenen Jahren seien über 50 000 Stellen gestrichen worden. Im Durchschnitt werden in deutschen Krankenhäusern zwölf Patienten von nur einer Pflegerin betreut. »Wenn jemand vier Stunden nackt auf dem Flur liegt und frierend auf seine Operation wartet, dann kann man verstehen, dass der ärgerlich wird«, räumte der Kommunikationstrainer und Psychologe Thomas Eckardt auf dem Kongress ein.

Viele Pflegende seien nicht mehr bereit, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, erklärte Franz Wagner. Wollten sie jedoch Veränderungen erreichen, müssten sie sich mit den gesellschaftlichen Ursachen ihrer Situation befassen. »Werden sie politischer!«, lautete daher seine eindringliche Forderung, die Ex-Gesundheitsminister und Attac-Mitglied Heiner Geißler noch konkretisierte: »Sie sind Opfer des kapitalistischen Systems«, sagte er. »Dagegen müssen sie sich wehren – gehen sie auf die Straße!«

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