Fürchte die Schwachen

Alina Bronsky: »Scherbenpark«, ein beeindruckendes Debüt

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein »Solitäre« ist eigentlich ein einzeln eingefasster Diamant. Etwas Besonderes also. In der heruntergekommenen Siedlung, in der die 17-jährige Sascha zusammen mit der Cousine ihres Stiefvaters und den zwei kleinen Geschwistern lebt, ist es einfach nur das höchste Hochhaus. Die meisten Bewohner sind, wie Sascha, russische Aussiedler. Aus dem Fenster ihres Zimmers im elften Stock hat man zwar einen guten Überblick über die Stadt; aber man ist auch weit von ihr entfernt. »Manchmal denke ich«, sagt sie am Anfang von Alina Bronskys Roman«, »ich bin die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben.«

Doch Vadim, Saschas Stiefvater, befindet sich an einem sicheren Ort: im Gefängnis. Denn Vadim war es, der, nachdem die Mutter ihn rausgeschmissen hatte, eines Tages zurückgekehrt ist und sie und ihren neuen Freund vor den Augen der Kinder erschossen hatte. Danach akzeptierte das Jugendamt, dass sich die Cousine Vadims um die Kinder kümmert. Die allerdings direkt aus Nowosibirsk kommt und kaum ein Wort Deutsch spricht.

Die Wut, mit der Alina Bronsky, die selbst aus Russland nach Deutschland ausgewandert ist, ihre Erzählerin ausgestattet hat, nimmt den Leser gleich zu Anfang gefangen. Einen Moment lang scheint dieses Gefühl ihre Heldin von der Umklammerung durch die deprimierenden Verhältnisse und die Erinnerung an die Katastrophe zu befreien. Eine Befreiung, die sich auf den Leser überträgt und dem Roman eine eigentümliche Spannung verleiht. Allerdings gewinnt Sascha durch ihre harte Art nicht gerade Freunde. Im »Solitär« ist sie im Grunde ein Außenseiter unter den Aussiedlerjugendlichen. Aber das ist ihr egal. Und im privaten katholischen Gymnasium, auf das sie als einzige aus der Siedlung geht, führt ihr hartes Lernen zwar zu den besten Noten ihres Jahrgangs, aber nicht dazu, dass sie besonders gemocht wird. Erst die Begegnung mit einem Journalisten und seinem Sohn beginnt etwas an ihrer Grundhaltung der Welt und vor allem den Männern gegenüber zu ändern.

Nach einer ernsten Schlägerei mit den Halbstarken der Siedlung hat sie dann auch zum ersten Mal Angst. Die Bewunderung des Lesers für ihren Mut schlägt hier in die Erkenntnis um, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn Sascha im richtigen Moment Angst gehabt hätte. Schon Saschas Mutter hatte vor Vadim keine Angst. Mal ignoriert sie sein Gebrüll, mal hat sie nur Mitleid mit ihm: »Es geht ihm nicht so gut, das siehst du doch.« Als er dann aber klingelt, lässt Sascha ihn herein und bleibt einfach nur wütend in der Tür stehen, ohne an eine mögliche Katastrophe zu denken. »Fürchte diejenigen, die sich schwach fühlen, denke ich einmal mehr. Denn es kann sein, dass sie sich eines Tages stark fühlen wollen und du dich nie wieder davon erholen wirst.« Vielleicht ist aber die Wut die einzige Form, um mit der Gewalt, dem Elend und der Ödnis in einer Umgebung fertig zu werden, für die das Ziel eines »normalen« deutschen Lebens so unerreichbar ist wie der Besitz eines Solitärs.

Dass sie diese Perspektive wählt und nicht die des Mitleids oder der sozialen Anklage macht Alina Bronskys Roman »Scherbenpark« neben den genauen Beobachtungen zu einem beeindruckenden Debut.

Alina Bronsky: Scherbenpark. Kiepenheuer & Witsch. 288 S., geb., 16,95 EUR.

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