Macht im Wiki

Die neue Bürgerrechtsbewegung kämpft mit sich selbst

Es gibt kaum ein Thema, bei dem zur Zeit so viel in Bewegung ist, wie beim Datenschutz. Zehntausende gehen für das Recht auf Privatsphäre auf die Straße. Wolfgang Schäuble muss wegen der Kritik sein BKA-Gesetz nachbessern, die Bundeswehr darf doch noch nicht im Inland aufmarschieren. Damit sind die Videokameras zwar noch nicht abmontiert und die Daten bei der Telekom immer noch nicht sicher. Aber das Wissen um den Wert einer geschützten Privatsphäre und die Skepsis gegenüber einem runduminformierten Staat sind gewachsen.

Für Bürgerrechtler ist das ein großer Erfolg. Einen beträchtlichen Anteil daran hat der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. Er hat sich vor rund drei Jahren als »informeller Zusammenschluss« diverser Datenschutzgruppen und Provider gegründet, um die Totalprotokollierung aller Verbindungsdaten zu Fall zu bringen. Allerdings ist er mehr als ein Bündnis. Der AK hat viele neue Leute mobilisiert. In ca. 40 Städten gibt es Ortsgruppen, 1200 Menschen stehen auf der Mailingliste. Der AK Vorrat, wie er kurz heißt, hat erreicht, wozu altgediente Bürgerrechtsorganisationen lange Jahre zu schwach waren: Datenschutz ist nicht länger ein Nischenthema .

Die Pläne für das nächste Jahr sind ehrgeizig. Unter anderem arbeiten einige AKler an einer Art Memorandum für eine positive Vision von Sicherheit. »Wir wollen einen Umschwung im Sicherheitsdiskurs erreichen«, sagt Ralf Bendrath vom AK Vorrat selbstbewusst. Wie gut das gelingt, hängt auch davon ab, ob der AK seine eigenen Konflikte in den Griff bekommt. Denn davon gibt es einige. Immer öfter bestimmen nicht Schäubles neueste Schweinereien die Diskussionen, sondern interne Probleme. Auch wenn ihn das Fehlen von festen Strukturen attraktiv gemacht hat – heute erweist sich das als Mangel.

Wahlämter und Mitgliedsbücher sind bei vielen Web2.0-Aktivisten verpönt. Mitglied ist, wer sich auf der Mailingliste des Arbeitskreises anmeldet und an der politischen Arbeit beteiligt. Entscheidungen für den Bundes-AK werden per Mail diskutiert und abgestimmt. Auch Pressemitteilungen werden kollektiv im Wiki bearbeitet. Jeder ändert, was ihm gefällt. »Wer macht, der macht«, sagt Bendrath. Für ihn ist der AK ein »Riesenexperiment« für eine neue politische Kultur im Netz.

Viel gemacht hat auch Ricardo Christof Remmert-Fontes. Unter anderem hat er die letzte Demonstration mitorganisiert. An ihm scheiden sich jedoch die Geister. Der 31-Jährige musste heftige Vorwürfe von »egozentrischen Alleingängen« bis Unterschlagung einstecken und darf künftig nicht mehr für den bundesweiten AK nach außen auftreten. Dies haben 13 Leute Mitte November auf einem informellen Treffen in Wiesbaden beschlossen.

Nun folgt die Retourkutsche. Ein Teil der Berliner Ortsgruppe um den geschassten Remmert-Fontes hat unabgesprochen einen Verein gegründet, der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung Berlin heißen soll. Über diese Idee war Anfang des Jahres diskutiert worden. Allerdings fühlt sich jetzt eine andere Fraktion des Berliner AK von dem Schritt überrumpelt. Das Vorhaben sei weder in den Protokollen der letzten Wochen noch auf der Mailingliste erwähnt worden, so der Vorwurf. Beide Seiten halten sich gegenseitig vor, den Namen des AK vereinnahmen zu wollen.

Wahrscheinlich ist kaum ein anderer Konflikt von politischen Gruppen so gut dokumentiert wie dieser. Denn er wird im Internet über öffentlich abonnierbare Mailinglisten geführt. Detaillierte Protokolle von Treffen sind im Wiki abgelegt. Das Problem des AK besteht nicht in den Fehlleistungen Einzelner. Der AK ist ein heterogener Haufen »von Autonomen bis FDPlern«, wie Netzaktivist Bendrath formuliert. Differenzen sind da programmiert. Bis jetzt fehlt nur das Werkzeug für Konfliktlösungen.

In Berlin läuft die Debatte über die heimliche Vereinsgründung gerade so ab: Person X beantragt am 26. November, dass Entscheidungen nicht mehr bei den Ortsgruppentreffen, sondern wieder auf der Berliner Mailingliste getroffen werden sollen. Person Y bestreitet daraufhin, dass Person X überhaupt Mitglied in Berlin ist. Dies kontert Person X mit dem Verweis, dass Mitglied sei, wer der örtlichen Mailingliste beitrete. Die nächsten dreißig Stunden folgen an die 40 Mails. Höhepunkt ist ein Antrag für ein Online-Abstimmungsverfahren. Plötzlich war aufgefallen, dass es das in Berlin noch gar nicht gibt.

Auf solch nervenaufreibende Mailschlachten haben immer mehr Leute immer weniger Lust. So wird ein Teilnehmer des Wiesbadener Treffens im Protokoll mit der Einschätzung zitiert, dass sich Leute nicht aus Kritik an Remmert-Fontes zurückgezogen hätten, »sondern wegen der 500 Mails, die an Diskussionen über ihn verschwendet wurden«. Tatsächlich schreibt nur ein relativ kleiner Kreis von vielleicht zwanzig Leuten regelmäßig auf der bundesweiten Mailingliste.

Der AK ist ein Hybrid, irgendwo zwischen Organisation, Plattform, Netzwerk, Bündnis. Entsprechend umstritten ist, wie auf die Probleme zu reagieren sei. Seit einem Jahr arbeitet eine AG »Struktur« an der Verbesserung der Entscheidungsverfahren. Einiges erinnert an die Anfangstage von Attac. Das globalisierungskritische Netzwerk hat sich schließlich doch für einen Vorstand entschieden, der Koordinierungskreis heißt.

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