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Lebensmittelscheine und ausgebrannte Autos

Auswirkungen der Finanzkrise in den USA zunehmend spürbar

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn John Armage von seinem verflossenen Wohlstand erzählt, bricht ihm immer wieder die Stimme. Er habe ein Grundgehalt von 125 000 Dollar erhalten, das mit einem Jahresendbonus in derselben Höhe angereichert wurde. Aber nach neun Jahren als Analyst für »neue Märkte« bei der Investmentfirma »Goldman Sachs« war Mitte August nicht nur der Job weg. Armage, seine Frau Allison und ihre siebenjährigen Zwillinge Sebastian und Stephan mussten die geräumige Manhattaner Mietwohnung aufgeben und die Privatkrankenversicherung kündigen.

Den Gürtel enger zu schnallen hieß, in eine kleine Zweizimmerwohnung in der weniger teuren New Yorker Vorstadt Harrison zu ziehen. Seine Frau fand bei der Gemeindeverwaltung einen Ganztagsjob, von dem die Familie Miete, Nahrungsmittel und die Autoversicherung bezahlen kann. Außerdem sind sie über die Stadtverwaltung krankenversichert – was dem arbeitslosen John Armage beim Kampf gegen seine Depressionen aber nicht hilft. Täglich wache er verstört auf, mit dem immerselben Gefühl im Magen, sagt er: »Wie ist es nur möglich, dass jemand wie ich, mit meiner Erfahrung, in einem Land wie den USA nicht mehr richtig auf die Beine kommt?«

Er rafft sich dann aber doch auf, bringt die Jungs zur Schule und schaltet in der Küche den Computer ein. Er versucht sich mehr recht als schlecht als Consulting-Experte für in Not geratene Kleinbetriebe. Bisher kamen erst ein paar Hundert Dollar zusammen. Arbeitslosengeld erhält Armage nicht. Die Ersparnisse werden, wenn es so weitergeht, im März aufgebraucht sein. »Und es wird so weitergehen«, prophezeit er.

Dass sich die Immobilien- zu einer Finanzkrise auswuchs, die jetzt auf sämtliche Industriebereiche übergreifen und schwere soziale Verwerfungen hervorbringen wird, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Von einer »schweren Rezession« ist die Rede. »Schwerste Wirtschaftskrise seit 80 Jahren« lautet ein stehender Begriff in den Massenmedien. Vor acht Jahrzehnten war erstmals eine Spekulationsblase an der Wall Street geplatzt. Sie führte zum reihenweisen Zusammenbruch von Banken, zur »Great Depression«, Massenarbeitslosigkeit, Armut und Weltwirtschaftskrise. Daraus hätten die Regierung und die Banker aber gelernt, heißt es heute mit Verweis auf die staatlichen Beteiligungen an Banken und die Milliarden, mit denen sie gestützt werden. Doch wie tief werden die USA in den kommenden Jahren fallen?

Während vom Bankrott bedrohte Großkonzerne und Banken in Washington auf weitere Zahlungen drängen, müssen sich untere Einkommensschichten mit Versprechungen zufriedengeben, wie etwa dem Konjunkturprogramm. Der künftige Präsident Barack Obama hat 1,5 Millionen neue »grüne« Arbeitsplätze versprochen.

Die Reihen der Armen und Ärmsten in den USA schwellen seit dem Sommer stetig an. Es gebe »feste Hinweise darauf, dass Armut und Verzweiflung mehr zunehmen werden als wir das aus den vergangenen Jahrzehnten kennen«, sagt Robert Greenstein von der Washingtoner Organisation »Center on Budget and Policy Priorities«. Demnach wird die Zahl der Amerikaner, die unter der offiziellen Armutsgrenze von derzeit 21 200 Dollar Jahreseinkommen für eine vierköpfige Familie leben, nach oben schnellen – um ein Drittel innerhalb der kommenden Rezessionsjahre, von derzeit 36,5 Millionen auf 46,8 Millionen Menschen. Allein die Zahl der Kinder, die auf Lebensmittelmarken angewiesen und von Obdachlosigkeit bedroht sind, wird sich Greenstein zufolge um 3,3 Millionen erhöhen, die der allerärmsten Kinder aus Familien, die nur 10 000 Dollar Jahreseinkommen und darunter verdienen, um zwei Millionen.

Ein Hinweis auf eine mögliche Massenarmut ist die drastische Zunahme staatlicher Lebensmittelscheine seit August letzten Jahres um 9,6 Prozent. 2,6 Millionen Amerikaner mehr reichen im Supermarkt oft beschämt die Scheine an die Kassiererin weiter.

Vergleiche mit vergangenen wirtschaftlichen Rezessionsphasen helfen bei der Frage nach dem sozialen Ausmaß der Krise kaum. Denn 1974/75 und 1981/82 war das soziale Netz, das Präsident Delano Roosevelt auf Druck der Arbeiterbewegung nach der »Great Depression« eingerichtet und zur klassischen amerikanischen »Mittelschichtsgesellschaft« geführt hatte, noch weitgehend intakt. Erst die Regierungen Ronald Reagan und Bill Clinton rissen gigantische Löcher in das Auffangnetz. Von Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung über Arbeitslosengeld bis hin zu Fort- und Umbildungsmöglichkeiten und Mietzuschüssen – für die Mehrheit derjenigen, die auf staatliche Hilfen zur Erfüllung der notwendigsten Lebensbedürfnisse angewiesen wären, hängen die Trauben zu hoch.

Das »Center for American Progress« ermittelte im Februar, dass heute nur 37 Prozent der Amerikaner ohne Beschäftigung Zuschüsse erhalten. 1974 waren es noch 50 Prozent. Betrug die Laufzeit für Arbeitslosenhilfe damals 65 Wochen, so kann heute ein Arbeitsloser maximal 39 Wochen mit Zahlungen rechnen, im Durchschnitt 293 Dollar pro Woche – was für eine vierköpfige Familie kaum die Monatsmiete abdeckt. Die Dunkelziffern liegen freilich viel höher, da Arbeitslosigkeit nach einer Teilzeitbeschäftigung kaum gemeldet wird. Außerdem fallen Arbeitskräfte weg, die keine Beschäftigungserlaubnis haben. Die Zahl der »illegalen« Immigranten beträgt mehrere Millionen.

Maßnahmen ausgeblendet

Die Axt, die die neoliberalen Regierungen an das soziale Netz anlegt haben, und die Wirtschaftskrise sind in den verschuldeten Kommunen, die ihre Haushalte noch weiter einschränken müssen, längst spürbar. Dies reicht vom Verkauf der örtlichen Eislaufhalle an ein Privatunternehmen über die Entlassung von Bibliothekaren in der Stadtbücherei bis zu brachliegenden Feuerwehrhäusern. Immer öfter treffen sich Feuerwehrleute zu Betteltouren an Straßenkreuzungen, wo sie Passanten um Spenden für Reparaturen bitten. Gemeinden überlegen, Bürgerversammlungen einzuberufen, um die »Stimmung« auf der Straße und Vorschläge zur Eindämmung der Krise einzufangen.

Doch Gegenmaßnahmen spielen in der Berichterstattung der sensationsheischenden Medien allenfalls eine Rolle, wenn sich Barack Obama dazu auslässt. Die hinteren Seiten und Nebenspalten der Zeitungen strotzen dagegen vor Berichten über Krisensymptome. In verarmten Vierteln häufen sich z. B. ausgebrannte Autos – angezündet von verzweifelten Autobesitzern, die ihr letztes Hab und Gut zu »Cash« machen wollen und auf Versicherungszahlungen hoffen.

Ansteigende Kriminalität

Organisationen, die Notfalltelefone für Selbstmordgefährdete betreiben, berichten von einer drastischen Zunahme von Anrufen. Frauenhäuser, die Opfer von häuslicher Gewalt aufnehmen, sind bis auf das letzte Bett belegt. Alte Menschen, die krank sind und gerne ihre Wohnung verkaufen würden, um sich ein Altersheim mit Betreuung leisten zu können, finden keine Käufer und müssen in der Isolation weiterleben. Der Fernsehsender CNN berichtete im Oktober davon, dass den USA eine Gewaltwelle bevorstehe, die sich im Augenblick in der Zunahme von Selbstmorden von auf die Straße gesetzten Hausbesitzern äußere. Wenn der rezessionsbedingte Stress zunimmt, werde auch die Straßenkriminalität, einschließlich der Mordrate, massiv ansteigen.

Den totalen Abstieg kann sich der ehemalige Wall-Street-Banker John Armage nicht vorstellen. Immerhin hätten er und seine Frau keine Kreditkarten – oder sonstige Schulden. Außerdem: Sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter verschärfen, kann die Familie ihre antiken Möbel verkaufen, die im kleinen Wohnzimmer stehen. John Armage gleitet mit seinen Händen über das schöne Bücherregal und die Mahagoni-Anrichte. Dann deutet er auf zwei expressionistische Gemälde. Die antiken Stücke kaufte er vor fünf Jahren, als er noch der Goldesel der Familie war, und rettete sie von der Luxuswohnung in Manhattan in das Vorstadtappartment. Nicht ganz ins Wohnzimmer passt ein winziger Plastikfischtank mit einem unscheinbaren grünen Fisch – »unser erstes und einziges Haustier«, wie Armage erklärt. Er habe ihn in der Vorstadt gekauft. Wenn John Armage irgendwann wieder einen gut bezahlten Job hat, will er ihn zur Zoohandlung zurückbringen.

Max Böhnel ist ND-Korrespondent in den USA.

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