Kein Trost nirgends

Das »Wunschkonzert« von Franz Xaver Kroetz im Schauspiel Köln

  • Marianne Bäumler
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Sprecher aus dem Transistorradio sagt sagt munter »Ihre Wahl«, im »Wunschkonzert«, dem ansonsten ganz dialoglosen Theaterstück des radikalen Realisten Franz Xaver Kroetz, das bereits 1973 uraufgeführt wurde, und nun in einer außergewöhnlich vielschichtigen Inszenierung der britischen Regisseurin Katie Mitchell in Köln zu bewundern ist. »Ihre Wahl« bedeutet der Frau, die da allein und erwartungslos in ihrer kleinen Wohnung verstummt ist, nun gar nichts mehr. Sie hat keine Wahl: sie wird sich das Leben nehmen, und die Zuschauer wohnen beinah voyeuristisch der Vorbereitung auf ihren Selbstmord, diesem völlig unspektakulären Vorgang bei, wie einer nüchternen Versuchsanordnung in einem Labor, zunehmend erschüttert, wegen der wortlosen, fast beiläufigen Zwangsläufigkeit.

In einer pingelig aufgeräumten Wohnung finden stumm alltägliche Rituale statt – in der altmodisch unsinnlichen Kleidung der frühen siebziger Jahre bewegt sich eine Büroangestellte, die eben von einer eintönig und fremdbestimmten Sekretärinnen – Arbeit »nach Hause« gekommen ist, und die jetzt eigentlich ihren Feierabend irgendwie zu genießen hätte. Jedoch: ihr Gesicht bleibt freudlos. Zwischen zwanghaftem Händewaschen: Kleider wechseln, Wäsche in den Schrank sortieren, Zigarettenpausen einlegen, ins Nichts starren. Ganz unverzweifelt in den Gesichtszügen verkörpert die Schauspielerin Julia Wieninger diese Einsamkeit einer Frau, die, zur Selbstständigkeit genötigt, tapfer bisher die Öde ihres Singledaseins durchhielt, und jetzt so unaufgeregt wie heutzutage viele Menschen, die vom Arzt durch Tranquilizer ruhiggestellt werden, ihr Leben beenden wird. Als ob es in ihrem Dasein ein lautes Aufbegehren nie gegeben hätte, sich Wut und Verzweiflung nie mit Schluchzen und Seufzern haben deutlich machen können, scheint klagloses Hinnehmen von ihr erwartet worden zu sein, und die Frage stellt sich tragischerweise nicht mehr: Was fehlt ihr? Das Radioprogramm spielt naturgemäß die sehnsuchtsvolle Carmen-Melodie im Wunschkonzert. Und die zunehmend fassungslosen Zuschauer hören die von den Soundkünstlern verabreichten Geräusche einer Außenwelt: Straßenverkehr von Ferne, und pulsierendes Blut, laut verstärkt wie bei einer Ultraschalluntersuchung.

Alle möglichen Geräusche (Simon Allen) kommen und ebben wieder ab; sie scheinen ihre Bedeutung verloren zu haben, ähnlich wie das Knistern von Papier, als die Frau ihre diversen Abschiedsbriefe wie belanglose Büropost noch mal durchsieht. Alltägliche Verrichtungen, sie sind deshalb so überdeutlich in ihrer Akustik zu hören, weil es im Zuhause der Frau keinerlei menschliches Echo mehr gibt. Sie beobachtet sich selbst im Spiegel, ganz adrett verziert sie ihr letztes Abendbrot noch mit kleinen Gürkchen, so als zähle weibliche Unauffälligkeit zu den höchsten Tugenden, und jene Frauen lebten in dem fatalen Irrtum: wenn ich mich anständig akkurat benehme, kann niemand mir etwas vorwerfen!

Das besonders Sehenswerte an dieser Kölner Inszenierung besteht in ihrem vielgestaltigen Verwenden synchroner filmischer Mittel, und der unglaublich präzisen medialen Gleichzeitigkeit im Bewegungsablauf von insgesamt vier Darstellerinnen, die alle in Nahaufnahmen mehrerer Livekameras diese atmosphärisch dichten Aspekte von Hoffnungslosigkeit auf die Bühne bringen, und die über allem hängende riesige Leinwand wiederum mit Details dieses entsetzlich geordneten Rückzugs konzentriert komplettieren. In der bescheiden eingerichteten Wohnung stehen immer ein paar permanent geschäftige schwarz gekleidete Kameramänner, die dem Zuschauer sowohl das blankgeputzte Resopal (sprelacart, d. R.) des Küchentischs, wie auch die Hand der Frau, die im Badezimmer im Medizinschränkchen die Tabletten sichtet, unangenehm nahe bringt.

Sowohl auf dem harten Bühnenboden vorne, als auch gleichzeitig projiziert als Filmsequenz auf einem Kunstrasen hüpft ein junges Mädchen (Laura Sundermann), fröhlich und ausgelassen im Herbstlaub herum und sortiert kindliche Erinnerungsstücke in ein Schatzkästchen. Abrupt erlischt solche Wehmut in einer Weißblende, die Bildregie irritiert sehr bewusst mit solchen parallelen Blickangeboten. Erstaunt hört die Frau die Geräusche, die sie selbst verursacht, immer wieder verdoppelt durch die konzentrierten Detailaktionen der Schauspielerinnen Therese Dürrenberger und Birgit Walter. Sie stickt – Handarbeit als ratlose Beschäftigung. Kein Alkohol trübt der Figur, wie in Deutschland als Droge Nummer Eins üblich, die lebensmüden Sinne. Erst beim Zubereiten der Selbsttötungsmischung wird sie die Tabletten mit einem Piccolo runter spülen. In einer Kittelschürze taucht auf der Leinwand eine ältere Frau (Therese Dürrenberger) am Boden liegend auf, deren Leben auch gerade zu Ende zu gehen scheint.

Kroetz Leiden an der Welt ist in dieser Aufführung permanent zu spüren, jedoch so schmerzhaft unaufgeregt, so, dass das Elend der Welt wie nasse Novemberkälte auch durch die Haut der Zuschauer dringt. Die Livemusik eines Streichquartetts untermalt wie im Stummfilm mit diskreten Akkorden das private Zerstörungsgeschehen.

Das Ende: Vogelzwitschern aus der Ferne, die Goldfische im Aquarium schwimmen weiter, der auf sechs Uhr gestellte Wecker klingelt und klingelt, und keine Hand taucht mehr auf, um ihn abzustellen. Etliche Bravos für diese intensive Teamarbeit.

Weitere Termine: 16., 17 .,18., 19., 20., und 31. Dezember im Schauspielhaus Köln

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