Ansichten aus Weimar

Louis Held, der wunderbare Fotograf, zeigt die Welt an der Ilm um 1900

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Vorn das herrschaftliche Weimar: das Schloss mit der Sternbrücke und der Ilm im Vordergrund, das schöne, klassizistische Treppenhaus der Residenz, das Porträt einer Hofdame, die Oberhofmeisterin, ganz Würde und Strenge, dazwischen, in einer Aufnahme von 1892, die Großherzogin Sophie vor einem Atelier-Prospekt, ernst und von matronenhafter Fülle, das straff gekämmte Haar mit einem Häubchen bedeckt. Das war sie also, die Frau, die 1885 Goethes schriftliche Hinterlassenschaft erbte und schon am Tag nach der Testamentseröffnung Akten, Hefte und Manuskripte des Dichters aus den so lange unzugänglichen Zimmern des Dichters holen ließ, um in aller Ruhe zu sichten, was bis dahin kein Fremder gesehen hatte. Der Entschluss war schnell gefasst: Das alles, was ihr Goethes Enkel Walther zugedacht hatte, sollte so schnell wie möglich in die Hände aller kommen. Sie rief sogleich die führenden Germanisten zusammen und beauftragte sie, das Werk, die Tagebücher und Briefe in einer großen Ausgabe zu versammeln (die am Ende, 1919, 143 Bände umfasste und sich Sophien-Ausgabe nannte). Und schließlich ließ sie auch noch oberhalb der Stadt, einem Schloss ähnlich, das Gebäude errichten, das Goethes, dann auch Schillers Papiere beherbergen sollte: das Archiv. Das Porträt verrät von alledem nichts. Aber sein Geheimnis lässt sich vom Betrachter ja lüften.

Ein Fotoband aus dem Leipziger Lehmstedt-Verlag erlaubt einen langen Blick in Weimars Vergangenheit. Manche dieser Aufnahmen, nicht nur die Porträts, sind immer mal wieder gedruckt worden, einzeln und in großen Bänden, und wer sich je in Ansichten der Stadt um 1900 vertiefte, sah sie mit den Augen von Louis Held. Er war der beste und erfolgreichste von allen, die damals mit einer Kamera das Leben an der Ilm festhielten, ein besessener Fotograf, ein Künstler, ein Dokumentarist, seinen Berufskollegen ein beträchtliches Stück voraus. Nicht nur, dass er den anderen technisch voranging, immer auf dem neuesten Stand der Entwicklung, den entscheidenden Vorsprung gewann er, indem er der Fotografie die Künstlichkeit nahm, das Gestelzte, Gelackte. Sicher, manch Prominenter, auch Großherzogin Sophie, posierte im Atelier vor prächtiger Kulisse, aber lieber noch zog Louis Held hinaus und arbeitete dort, wo sich die Menschen aufhielten: auf der Straße, in der Fabrik, beim Vergnügen.

Held, 1851 in einer Kaufmannsfamilie geboren, kam aus Berlin und hatte das Glück, nicht auf den Pfennig achten zu müssen. Mit 25 richtete er sich in Schlesien schon das erste Atelier ein. 1882, nach seiner Heirat und einem Zwischenaufenthalt in der Geburtsstadt, ging er nach Weimar und eröffnete ein neues Studio, erst in der Schillerstraße, dann in der Marienstraße am Wielandplatz. Er erwarb 1888 das Bürgerrecht, wurde »Großherzoglicher Hof-Photograph« und publizierte seit 1900 regelmäßig in Wochenblättern und Illustrierten. 1905 der Eklat: So wie er zwei Jahre zuvor den Einzug der jungen Großherzogin Caroline in Weimar festgehalten hatte, fotografierte er nun auch die Frühverstorbene auf dem Totenbett. Wilhelm Ernst von Sachsen, der seit 1901 das Regiment führte, 29 Jahre alt, unbeherrscht und bekannt für seine Grobheiten, geriet über diese Aufnahme so in Wut, dass er Held zu sich befahl und ihn mit einer Peitsche derart traktierte, dass der Arme nachher, wie Harry Graf Kessler im Tagebuch notierte, »wochenlang liegen musste«. Hoffotograf wurde danach ein anderer.

Aber da war Held längst ein gefragter Mann. Was in Weimar Rang und Namen hatte, suchte seine Nähe und ließ sich von ihm porträtieren. Er fotografierte Franz Liszt mit der weißen Mähne und das Ehepaar Ida und Richard Dehmel. Er zeigte den Schriftsteller Johannes Schlaf an seinem Schreibtisch und eine Gartengesellschaft bei Ernst von Wildenbruch. Das ganze prominente Weimar hat er in seinen Arbeiten versammelt: Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester des dahindämmernden Philosophen, die die Schriften ihres Bruders nach Herzenslust bearbeitet und ihrem Denken unterworfen hat, den Pianisten Ferruccio Busoni, die Schauspielerin Lil Dagover, den Architekten Walter Gropius, die Gruppe der gelehrten Arbeiter mit Hans Wahl und Max Hecker, die im Goethe- und Schiller-Archiv die Handschriften der Klassiker entzifferten und die Goethe-Ausgabe vorantrieben. Gleich in mehreren Studien ist Henry van de Velde zu sehen, der belgische Maler, Architekt, Kunsthandwerker und Designer, der an der Seite von Harry Graf Kessler, dem Direktor des Museums für Kunst und Kunstgewerbe, das Nest an der Ilm aus dem Schlaf reißen und das Neue Weimar schaffen wollte, eine Ära so attraktiv wie das Zeitalter um 1800.

Louis Held hat diese intensiven Bemühungen, die an der Borniertheit des Hofes schließlich zerbrachen, mit seiner Kamera dokumentiert: etwa die Eröffnung der berühmten Max-Klinger-Ausstellung 1903 (mit dem Herrscherpaar vorn und dem Initiator Harry Graf Kessler ganz im Hintergrund) oder den Beginn der Auguste-Rodin-Schau von 1904, deren Wiederholung 1906 (mit den Aktstudien des Bildhauers) zum Skandal und zur Entlassung Kesslers führte. Doch Held sah auch das andere Weimar, jenes, das nicht im Licht der Macht und des Ruhms lag. Er fotografierte Straßen und Plätze, den Wochenmarkt und das Alltagsleben, ging in den Hof des Goethe-Hauses, um ein Bild vom Hausmeisterpaar zu machen, zeigte den Bäckermeister Schmidt in seiner Backstube und Arbeiter beim Bau der Kanalisation, die Probefahrt der Straßenbahn, Armbrustschützen und Tennisspieler, Schlittschuhläufer, Bühnentechniker beim Frühstück, Bauernmädchen auf dem Weg zum Feld und Angestellte der Reform-Lichtspiele. Held, der leidenschaftliche Experimentator, hat 1910 auch noch das Atelier »Weimar-Film« gegründet, das sich der Herstellung von Dokumentar- und Spielfilmen (u.a. mit Lil Dagover) widmete. Zwei Jahre später eröffnete er in einem Anbau des Hauses in der Marienstraße die Reform-Lichtspiele.

Sein Atelier gibt es noch heute. Nach dem Tod des Meisters im April 1927 führte es Tochter Ella mit ihrem Mann weiter, und seit 1970 ist Eberhard Renno der Chef. Einst, 1955, hat er hier als Lehrling angefangen. Er ist auch der Mann, der immer wieder dafür sorgte, dass der Nachruhm des Louis Held nicht verblasst. Er kümmerte sich um Ausstellungen und publizierte Fotobände, zuletzt 1984 bei Schirmer-Mosel und 1985 im Leipziger Fotokinoverlag. Nun, nach langer Pause, kommt ein weiteres Album dazu, eine stattliche Auswahl der Fotografien von 1882 bis 1919, vorgestellt wieder von ihm und mit den schönsten Aufnahmen des Louis Held bestückt. Ein Buch für Genießer, Zeugnis eines Enthusiasten, ohne den wir kaum wüssten, wie es in Weimar einmal ausgesehen hat.

Louis Held: Im alten Weimar. Fotografien 1882 – 1919. Hg. von Stefan und Eberhard Renno. Lehmstedt Verlag. 152 S., geb., 24,90 EUR.

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