Maßlos gegen das Mittelmaß

Ibsens »John Gabriel Borkman« an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Regie: Thomas Ostermeier

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Nebel dringt unaufhörlich durch die Ritzen, bildet einen weiß fließenden Teppich der Bodenlosigkeit oder malt unwirkliche Gebirgs- und Wolkenbilder an die Rückwand der Bühne. Die sich hier drinnen verschanzt haben, in ihren Lebenslügen, in ihren Illusionen von Rettung und Revitalisierung, diese Menschen bewegen sich zugleich weit außerhalb aller behütenden Welt. Die zivilisatorischen Festigkeiten sind aufgekündigt in einem frostigen Wabern; wie abgeklirrt vom Planeten, hinausgesprengt in den Raum, vollziehen diese merkwürdigen Wesen eine letzte Drehung um sich selbst, eingekapselt, zugleich hilflos in einem kalten Universum zappelnd. In diesem Nebel stirbt jede reale Aussicht; was sich hier Luft macht, ist nur Anfang neuer Erstickungsanfälle.

Ähnlich John Carpenters »Fog«, Nebel des Grauens, der filmisch als Ankündigungssignal des Horrors vor Antonio Bay über die Meeresfläche zog: In Jan Pappelbaums Bühnenbild durchfrostet, durchweicht Nebel die Welt der unglücklichen Borkmans, löst diese Welt auf in die Gnadenlosigkeit einer bitteren Komödie.

»John Gabriel Borkman« von Henrik Ibsen erzählt die Geschichte eines Bankiers, der im Gefängnis saß, weil er Geld seiner Anleger veruntreute; der bekannte Teufelskreis aus Spekulation und immer tieferen Griffen in fremdes Geld. Schließlich Intrige, Verhaftung, Ehrverlust. Borkman, der Ideengigant, der im kapitalen Erzabbau jenes Projekt sah, das seiner Geisteskraft, seiner logistischen Fantasie, seiner Machtmöglichkeiten entsprach – und dann dieser Absturz. Der Übermensch, der jedes Risiko-Recht für sich allein beansprucht und sich als Opfer der gesetzgeberischen Mittelmäßigkeit fühlt. Die mit ihren biederen Moralgeboten einen Titan in die Entwürdigung zwang.

Wieder in Freiheit, bleibt Borkman ein Gefangener, tappt jahrelang durch sein Zimmer wie ein Schicksalsgefesselter, unten im Erdgeschoss die Ehefrau Gunhild, zu der er keinen Kontakt mehr hat. Und die wiederum nur an Rache denkt, deren Vollstrecker Sohn Erhard sein soll. Sohn Erhard war nach dem Zusammenbruch des Borkman-Imperiums von Gunhilds Schwester Ella aufgezogen worden – nun steht diese unerwartet vor der Tür, will das Kind zurück, denn, todsterbenskrank, bedarf sie eines letzten menschlichen Halts ...

An der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz inszenierte Thomas Ostermeier diesen dramatisch übersteigerten Ibsen, nach »Nora« und »Hedda Gabler« (und »Baumeister Solness« am Wiener Burgtheater) ein weiterer Zugriff auf bürgerliche Katastrophen-Phänomene. Wieder ein Porträt der Endzeit, die war schon angelegt in dem, was man Gründerzeit nannte. Zynisch kapituliert jener moralische, familiäre Kontrollmechanismus, den das kantische, gutbürgerliche Zeitalter zu seiner eigenen Zähmung bereitgestellt hatte. Existenz und Moral treten unterm anheizenden Beifall des Geldes auseinander.

Der Besitzende – Borkman – ist der Besessene, sein Dasein verkündet: Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit; ich bin kein Subjekt, ich bin ein begehrender Motor; ich habe keine Mitmenschen, ich fliege als Meteor. Wer so handelt und ganz Macht ist, hinterlässt andere, denen nur zu sagen bleibt: Ich bin kein Mensch, ich bin Spielball, muss mich fügen. Das Weltmaß gibt der Ideenträger an, das Überblicks- und Überflieggenie – und so ist Borkman noch in der tiefen Einsamkeit seiner Zimmerzelle ein verblendet Wartender, der jeden Moment damit rechnet, von denen, die ihn einst richteten, zurückgebeten zu werden in die Vollmacht, an die Spitze des Geschäfts.

Aber niemand kommt. Diese Geschichte erzählt jede abgewrackte Hierarchie, jedes fortgejagte System. »Laienspieler« nannte man gehässig jene, die im Endstadium der DDR die Machthaber verscheuchten; im Wartestand fantasierte die erledigte Kaste so lüstern wie lauernd von neuerlicher Verwendbarkeit, denn die »Laien« würden ja jämmerlich versagen. Aber im Wartestand versteinerte die erträumte politische Renaissance, so, wie auch ein Borkman vergeblich wartet.

Eine Couch auf leerer Bühne. Das Erdgeschoss. Hier hockt Frau Borkman. Der Klang von Schritten. Das kommt von oben. Die Bühne dreht sich, und Borkman steht vor seinem Arbeitstisch. Das Obergeschoss. Viel Papier verweist auf viele Pläne. Josef Bierbichler spielt diesen Borkman als einen seelischen Analphabeten: Es ist die Bosheit glücklicher Menschen, nie zu wissen, wovon die weniger glücklichen reden. Dieser wunderbar schmucklose, unaufwendige Bierbichler spielt seinen Bankier als aufreizend unbekümmerten Arroganzklumpen, der sich mit heißer wirtschaftlicher Begehrenskultur die kurze Ewigkeit vertreibt, die ihm noch bleibt. Das ist schon grandios: Borkmans hochfliegende Selbstlüge einer neuerlichen, scheinbar schon absehbaren finanziell-ökonomischen Großtat – diese Lüge breitet sich im Bierbichler-Körper aus, der geradezu kraftstrotzend leidenschaftslos durch den Raum tigert. Bis der selbstwertlädierte Borkman-Vertraute Wilhelm (Felix Römer), ein Kleinangestellter mit unerfüllten Dichterträumen, mit klaren Worten die Realitätsferne dieser immer neu nachwachsenden Macht-Fantasien des Bankiers ausspricht. Da geht in Borkmans Innerem wohl eine unsichtbare Lawine der schlimmen, alle Hoffnung begrabenden Erkenntnis nieder, und, eiskalt getroffen, erklärt der Bankier den so armselig auf Ruhm hoffenden Wilhelm zu einem poetischen Stümper. Ein komischer gegenseitiger Lebenslügen-Klau. Ein trauriges Maskenreißen.

Plötzlich steht Ella im Zimmer, die den Sohn Erhard holen will, und Ella ist ja auch Borkmans ehemalige Geliebte, die dieser einst fallen ließ – wegen der lockenden Mitgift-Möglichkeiten ihrer Schwester Gunhild. Ella nennt Borkman den Mörder ihrer Liebesfähigkeit, und Angela Winkler besetzt die Szene wie eine dunkle Verwandte des Nebels, eine Schattendämonin, die das Wissen um ihren nahenden Tod ganz sanft, ganz verhuscht, ganz stockend und in sich gekehrt aber doch wie eine scharfe böse Waffe in die losbrechenden Wortgefechte rammt. Urschnell ihre seelischen Eruptionen, die das Papier von Borkmans Tisch fegen, dann ist das ganze Wesen sofort wieder gebunden ans Senkblei der Wesenlosigkeit.

Die Gunhild der Kirsten Dene ist eine in lakonisch herausgepresstem Hass verhärtete Frau, sie hockt, wo immer sie sitzt oder steht, gleichsam in Schützengräben der Unversöhnlichkeit und des grenzenlosen Verlassenseins; aus einem Gesicht wurde eine Mauer, die keine Augen, keinen Mund hat, sondern Schießscharten. Sebastian Schwarz gibt den Sohn Erhard als schwabbeligen Anzugjungen, der sich aus allen Umklammerungen herausschreit, der mit einer dubios-flotten Lebedame das Weite sucht; aber mit seinem Habitus, seinem Babyfett »rettet« er alles Reden von Freiheit nur als Neuauflage des Selbstbetrugs in eine nächste Generation.

Bierbichler, Winkler, Dene: drei große Schauspieler in einer Inszenierung, die zügig auf den Punkt, ans Ende kommt; in der Tragödie lebt ein unbarmherzig kühler Witz. Ostermeier ist kein versunken suchender Psychogeist, er legt Uhrwerk und Unruhe frei, alles Ticken der Zeit-(Bomben) beruht auf einer Mechanik, die so bestürzt, wie sie lachen macht.

Fast könnte man die Welt, die hier im Nebel stochert, eine ganz einfache Welt nennen, schnell durchschaut das Ganze. Ibsen, das weite schlimme Land hinter den Schlagzeilen von der Finanzkrise. Borkman stirbt, Bierbichler überzog seine Figur plötzlich mit einem fahlen, erbärmlich alten Grau, etwas hatte den Bankier »angefasst«, das ist der letzte Riss in seinem Gehirnkino, das sich für großes faustisches Denken hielt. Und die zwei Feind-Frauen fassen sich an den Händen. So was nennt man wohl Trost, dies Unwirkliche inmitten der realen Dinge, die nicht zu fassen sind.

Nächste Vorstellung:
am 24. Januar.

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