Was tun gegen die Angst?

Die Wirtschaftskrise hat Deutschland im Griff

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 7 Min.
Was tun gegen die Angst?

Zu den großen Plagen des menschlichen Lebens gehört der Schmerz. Wenn uns etwas wehtut, sind wir sehr dankbar, wenn es wieder aufhört. Und doch ist völlige Schmerzunempfindlichkeit ein gefährliches, sehr seltenes Krankheitsbild. Die betroffenen Personen sind alles andere als glücklich mit ihrer Analgesie. Sie werden oft lebensbedrohlich verletzt, wenn beispielsweise Gliedmaßen verbrennen oder erfrieren, ohne dass sie rechtzeitig gewarnt werden.

Angst ist ebenso doppelgesichtig wie der Schmerz. Aber da sie nicht aus dem Körper kommt, sondern aus der Seele, ist sie auch sehr viel schwerer einzuschätzen und sehr viel stärker durch soziale Mechanismen geprägt. Wenn wir keine Angst hätten, wären wir nicht da. Ein weithin sichtbareres Paket leckerer Proteine, das – anders als etwa die Schildkröte – ohne Panzer herumläuft, würde ohne blitzschnelle Angstbereitschaft bald zum Opfer des nächsten Raubtiers. Angst zu haben, Gefahren wahrzunehmen, rasch zu fliehen ist hilfreich für das Überleben. Wenn unsere Ahnen keine Angst vor Säbelzahntigern und Höhlenbären gehabt hätten, wären sie ausgestorben. Wenn Kinder sich nicht fürchten würden, den Schutz der Erwachsenen zu verlieren, wären die Folgen nicht anders.

Angst macht den Menschen vorausschauend, lässt ihn planen. Um Angstpatienten zu trösten, sage ich ihnen oft, dass ängstliche Menschen sehr gute Organisatoren sind und meist in der Arbeitswelt besser überleben als kühne Helden und furchtlose Siegertypen. Sie denken, ehe sie etwas unternehmen, genau über alles nach, was schiefgehen kann. Mehrfach. Sie bauen vor, haben Plan C parat, wenn Plan A versagt und Plan B ebenfalls nicht funktioniert.

Aber Angst ist nur solange hilfreich, wie sie sehend macht und nicht blind. Wenn sie uns unterstützt, reale Gefahren wahrzunehmen, uns auf sie vorzubereiten, sie zu vermeiden, unser Handeln gut zu planen und abzusichern, kräftigt uns die Angst. Sobald sie aber den Unterschied zwischen realen Gefahren und erträglichen Risiken verwischt, wird die Angst selbst zur Gefahr. Wenn wir ihr auch dort nachgeben, wo es »nur« darum geht, Kränkungen zu vermeiden, uns anzustrengen, ein wenig zu schwitzen oder zu frieren, kann die Angst wie ein Krake alles Leben aus einer zwanghaft erstarrten Routine pressen.

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise verrät zuerst einmal, dass nicht Ängste, sondern Angstvermeidungen Menschen in Gefahr bringen. Sie wäre nicht entstanden, wenn nicht viele Bankkunden in blindem Expertenvertrauen elementare Regeln des vorsichtigen Wirtschaftens vernachlässigt hätten. Eine dieser Regeln lautet, nie sein ganzes Geld auf eine Karte zu setzen. Die Bankiers des 19. Jahrhunderts empfahlen ein Drittel Aktien, ein Drittel Immobilien, ein Drittel Gold, Schmuck, Bargeld. Wer solche Regeln aufstellt, weiß nur zu gut, dass jede Investition schiefgehen kann, und es klug ist, sich gegen diese Gefahr abzusichern, auch wenn so kein maximaler Gewinn erzielt werden kann.

Solange wir daran glauben, dass jemand besser für uns sorgt als wir es selbst tun können, haben wir keine Angst. Wenn sich die Mutter nicht fürchtet, lebt das Baby in ihrem Schoß, an ihrer Brust angstfrei. Solange wir unserer Bank oder unserer Firma in ähnlicher Weise vertrauen, leben wir in Ruhe und Frieden – in einem seligen Zustand kindlicher Geborgenheit. Wenn aber ein so grenzenloses Vertrauen enttäuscht wird, kann ein ebenso blindes Misstrauen entstehen. Die Wirtschaftskrisen lehren, dass dieses Kippen vom gutgläubigen Vertrauen zum panischen Misstrauen die Kursstürze verursacht, welche dann als schwarze Tage in die Börsengeschichte eingehen.

Emanzipation hatte schon immer mit Angstbewältigung zu tun: Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Sie ist ein anspruchsvolles Programm. Was aber tun, wenn die Welt so kompliziert ist, dass der eigene Verstand keine Übersicht verschafft und auch Experten nur einen kleinen Ausschnitt überblicken? Nicht zuletzt wegen dieser Unübersichtlichkeit der Moderne nehmen in ihr die Ängste zu, wie man einer seit 1991 regelmäßig durchgeführten Befragung entnehmen kann. Die von der R+V-Versicherung der Raiffeisenbanken in Auftrag gegebene Studie ergab im vergangenen Jahr, dass sich 76 Prozent der Deutschen vor weiteren Preissteigerungen fürchteten. Das waren zehn Prozent mehr als im Vorjahr. 58 Prozent hatten Angst, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verschlechtern könnte, das waren ebenfalls zehn Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Naturkatastrophen ängstigen über die Hälfte der Bevölkerung. Ebenfalls jeder zweite Deutsche befürchtet, im Alter pflegebedürftig zu werden.

Das sind alles durchaus realistische Ängste; etwas Neurotisches lässt sich in ihnen nicht erkennen. Vielleicht sagen die Umfragen nicht nur, dass die Ängste zunehmen, sondern dass wir auch offener über sie sprechen und die militärischen Werte (in denen solche Gefühle als abscheulicher innerer Schweinehund gelten) nicht mehr so greifen. Was bedeutet das für die Frage nach einem guten Umgang mit Ängsten? Es heißt zuerst, dass jede Angst ernst genommen werden sollte. Denn beim ersten Hinfühlen ist nicht klar, ob es sich um eine sehende Angst handelt, die uns auf reale Gefahren vorbereitet, oder um eine blinde, die uns angesichts lösbarerer Probleme lähmt. Wenn ich beispielsweise noch einen Arbeitsplatz habe, mich aber fürchte, diesen zu verlieren, ist es ebenso falsch, diese Angst als unsinnig abzutun, wie über ihr schlaflose Nächte zu verbringen. Es geht darum, reale Gefahren einzuschätzen, Lösungen für sie vorzubereiten, planmäßig tätig zu werden. Wer sich angesichts solcher Ängste über die Situation seines Unternehmens informiert, sich nach seinen Möglichkeiten in Betriebsrat, Gewerkschaft, Verband engagiert, kann auch deshalb ruhiger schlafen, weil er tagsüber etwas gegen diese Angst unternimmt.

Solche Empfehlungen sind nicht neu. Hope for the best, prepare for the worst – das Beste hoffen, sich für das Schlimmste vorbereiten ist eine ebenso gültige Regel wie no risk, no fun. Jede Lust ist mit einem Risiko verbunden, und sei es nur dem, dass es mehr schmerzt, etwas zu verlieren, als es nie gehabt zu haben. Angst ist ein Gefühl, das zur Aktion drängt. Daher hindern uns neurotische Ängste ja auch so hartnäckig am Schlaf und spiegeln uns vor, wir seien dem Leben nicht mehr gewachsen, wenn wir jetzt nicht endlich einschlafen, würden aber andererseits von heute auf morgen tablettensüchtig, wenn wir eine der im Nachtkästchen bereitliegenden Pillen schlucken.

Jede Angst schreit uns sozusagen an: Du musst mich in den Griff bekommen, du musst eine Lösung finden, wenn du keine findest, ist alles aus! Das vernünftige Ich erträgt dieses Geschrei und klärt unbeeindruckt, wie die angekündigte Gefahr einzuschätzen ist. Aber die Vernunft sagt uns auch, dass die Angst zum Leben gehört und es weder möglich noch sinnvoll ist, sich von ihr zu befreien. Typisch für Angstpatienten ist, dass sie nach einem Jahr einer Therapie, in der sich viel in ihrem Leben zum Besseren verändert hat, übernächtigt in eine Sitzung kommen und sagen: Jetzt hatte ich so gehofft, dass die Angst nicht wiederkommt! Und sie war doch wieder da, schlimmer als je zuvor!

Aber es wäre ja eine unbrauchbare Angst, die beim fünften Säbelzahntiger sagt: Der ist nicht mehr so gefährlich wie die vorausgehenden, da kann ich es gemütlicher angehen lassen! Nein, die Angst muss immer so in unser Erleben treten, als sei die gegenwärtige Gefahr die schlimmste, die ich je erlebt habe. Was sich bessern lässt und im Standhalten gegenüber Ängsten auch tatsächlich bessert, ist die Erholung nach dem Angstanfall und die Einordnung dessen, was geschehen ist, die Differenzierung zwischen dem, was ich durch Aktivität verändern kann, und dem, was ich ertragen muss. So gelingt es, die Angst abzupuffern und zu lernen, sie anzunehmen als Teil des Lebens. Wir erkennen sie als starkes Gefühl, das in unserer hoch entwickelten Kultur selten die einfachen Lösungen von Kampf oder Flucht zulässt.

Viel problematischer als die Angst, die – wie alle Affekte – kommt, aber auch wieder vergeht und letztlich den Organismus nicht schädigt, ist unser Bedürfnis, Ängste zu betäuben. Viele Alkoholiker und Drogensüchtige sind verkappte Angstkranke, die schließlich mehr unter den Folgen ihrer Selbstbehandlung leiden als unter der Angst. Ähnlich können auch politische Inszenierungen zur Angstabwehr eingesetzt werden, die viel gefährlichere Folgen haben als die erlebte Angst. Rassismus und Nationalismus versprechen beispielsweise eine angstfreie, paradiesische Zukunft. Vorher, so die Botschaft, muss aber beseitigt werden, was diesen Frieden stört. Ganz typisch für die faschistischen Bewegungen ist der blinde Aktionismus als Angstabwehr, die Flucht in den Kampf, die Ablehnung jeder Diskussion.

Unser Autor hat zum Thema 2005 »Lebensgefühl Angst« (Herder-Verlag) veröffentlicht und 2007 das »Buch der Ängste« (Blumenbar-Verlag).

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