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  • Reportage - Duisburger Bruckhausen

Ein vorauseilender Nachruf

Früher war der Duisburger Stadtteil Bruckhausen beliebte TV-Kulisse. Heute ist vom einstigen Glanz nicht mehr viel geblieben. Die Menschen, die im Schatten des Stahlkonzerns Thyssen Krupp leben, müssen sich auf das Ende ihres Wohnviertels einstellen.

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Taufbecken ist noch da. Es steht unter freiem Himmel, mit einer leichten Metallplatte abgedeckt, damit der Himmel nicht hineinweinen kann. Und eine fehlende Kirche ist durchaus ein Grund, traurig zu sein. Viel ist jedenfalls nicht übrig vom Gotteshaus der katholischen Liebfrauengemeinde in Duisburg-Bruckhausen. »Hier«, Marlene K. zeigt auf den Platz um das Taufbecken herum, »hier lag das Seitenschiff«. Nur eine Wand haben sie stehen lassen. In deren glaslose Fensterhöhlen schmiegt sich mittlerweile das Moos an – wie es sich für Ruinen eben gehört.

Marlene K. ist hier getauft worden, ihre Tochter auch. Enkel gibt es noch nicht und ob ein Taufbecken in Bruckhausen überhaupt noch gebraucht wird, das weiß sie nicht. Wie viele Kinder werden denn hier noch geboren? Wie viele von ihnen haben christliche, wie viele muslimische Eltern? 50 Prozent der Menschen in diesem Stadtteil sind nicht in Deutschland oder in einer deutschen Familie geboren. Menschen mit Migrationshintergrund nennen die sie, die bei dem Wort Ausländer an Diskriminierung, Brandanschläge und Rassismus denken. »Meine Tochter ist hier schon mit Multikulti aufgewachsen, als noch niemand etwas von diesem Soziologengeschwafel gehört hat.« Bei diesem Satz schaut Marlene K. halb verächtlich, halb amüsiert: »Jedes Kind konnte hier in sieben verschiedenen Sprachen bis zehn zählen und in mindestens dreien ›Ich liebe dich‹ sagen.«

Geringste Lebenserwartung

Bunt ist es gewesen im Bruckhausen der 1970er Jahre. Griechen, Spanier, Jugoslawen, Holländer, Türken und Deutsche haben hier in einem der ersten Schmelztiegel Nordrhein-Westfalens gelebt. Heute wohnen dort vor allem türkische, pakistanische und marokkanische Familien und ihr hoher Anteil an der Bevölkerung des Stadtteils hat Bruckhausen zu einem begehrten Studienobjekt für Wissenschaftler werden lassen. Wie in einem Freiluftlabor können sie dort erforschen, ob und wie Deutsche und Türken sich vertragen. In ihren wissenschaftlichen Abhandlungen ist von zunehmender Kriminalitätsfurcht bei den deutschen Nachbarn zu lesen, vom höchsten Anteil an Ausländern in ganz NRW, von Bildungsferne, Segregation, von steigenden Arbeitslosenzahlen und hohen Schadstoffemissionen. Dass aber genau diese Schadstoffbelastung dazu führte, dass Bruckhausen der Stadtteil ist, in dem die 49- bis 65-Jährigen die geringste Lebenserwartung in Duisburg haben, das wird – wenn überhaupt – nur in Nebensätzen erwähnt.

Marlene K. führt durch die Straßen. Zu übersehen ist der Niedergang nicht – der Verfall und die Verarmung. Viele Häuser sind unbewohnt, oft fehlen Scheiben in den Fenstern, in Hauseingängen stinkt es nach Urin und überall hängen Zettel mit Wohnungsangeboten. 420 Euro soll eine Wohnung in der Reinerstraße kosten. 78 Quadratmeter, drei Zimmer im Dachgeschoss eines Altbaus. Günstig ist das für Duisburger Verhältnisse nicht. Im noblen Stadtteil Rahm sind Wohnungen zum gleichen Preis zu bekommen. Dort darf aber nicht jeder hinziehen. Um Unentschlossenen die Entscheidung etwas zu erleichtern, locken Immobilienmakler Wohnungssuchende nach Bruckhausen, indem sie ihnen bei Anmietung einer ihrer Wohnungen einen Gutschein für eine Playstation 3, ein Flat-TV oder eine Reise im Wert von 500 Euro versprechen.

Die einen suchen neue Mieter, die anderen vernageln Fenster und Türen, um Menschen daran zu hindern, in Häuser einzudringen, in die ohnehin niemand mehr will. Das Wollen spielt aber keine Rolle mehr, es soll klar werden, dass sie nicht mehr dürfen. Denn zur Bekämpfung von Wohnungsleerstand, Feinstaubbelastung und Lärmbelästigung wird demnächst die Abrissbirne angesetzt. Etwa 300 Häuser sind von diesem Plan betroffen, der den hübschen Namen Grüngürtel-Nord trägt. Durch den Abriss soll ein fünf Kilometer langer Puffer entstehen, der Thyssens Industrieanlagen dann von den übrig gebliebenen Wohnhäusern trennen wird.

Stigmatisierung als Ghetto-Braut

Maximal 300 Meter breit und an die zwölf Meter hoch soll dieser grüne Wall werden. Thyssen wird seine Schornsteine dahinter nicht verstecken können und einen Beitrag zur Verringerung der Schadstoffbelastung wird dieser Hügel auch nicht leisten. Der Abstandserlass für NRW empfiehlt zwischen Wohnsiedlung und Stahlwerk einen Mindestabstand von 1000 Metern. Die Kosten in Höhe von 72 Millionen Euro teilen sich das Land NRW, die EU und Thyssen Krupp Steel. Der Stahlkonzern beteiligt sich mit rund 36 Millionen Euro.

Wann der Abriss beginnt, ist noch nicht bekannt, wohl aber, dass das ganze Sanierungsverfahren etwa zehn Jahre dauern wird. Danach soll Bruckhausen wieder als Wohnviertel attraktiv sein und für mehr Lebensqualität stehen. »Unsinn«, findet Marlene K. »Wenn hier über 1500 Menschen wegziehen müssen, wer soll denn dann hier noch einkaufen, in den Kindergarten oder in die Schule gehen? Ärzte gibt es doch jetzt schon kaum noch hier. Es werden immer mehr Leute wegziehen und dann reißen sie auch den Rest ab.«

Sie ist auf ihrem Gang durch Bruckhausen mittlerweile in der Bayreutherstraße angekommen. 20 Jahre hat sie hier mit ihrer Familie gelebt. Ihr Mann hat bei Thyssen gearbeitet, Wechselschicht, da bleibt nicht viel Zeit für andere Dinge. Die drei Wochen Urlaub im Jahr – die haben sie aber immer richtig genutzt. Weit weg sind sie dann geflogen, nach Florida, Israel und immer wieder nach Griechenland, weil es ihnen dort einfach am besten gefiel. Manchmal wären sie gern für immer dort geblieben, wollten nicht zurück müssen. Die Wohnung in Bruckhausen war klein und die Tochter hat sich geschämt, dort zu wohnen. Das war nicht immer so. Als kleines Mädchen hat sie gern am alten Bunker oder auf dem großen Garagenhof gespielt, hat Rhabarber und Bohnen aus den Schrebergärten an der Autobahn geklaut und hat ihre türkischen Freundinnen um die vielen Geschwister, Cousins und Cousinen beneidet. Später, auf dem Gymnasium, wurde sie als Ghetto-Braut gehänselt und fand unter all den Kindern von Ärzten, Geschäftsleuten und Anwälten nie Freunde.

Nach dem Abitur der Tochter ist Familie K. dann weggezogen – vielleicht zu spät, vielleicht nicht weit genug weg. Viele alte Bruckhausener sind in die nahen Gemeinden Beeck, Marxloh oder Hamborn gezogen, doch da ging es auch mit diesen Stadtteilen längst berab. Auch dort leben oft nur noch die Menschen, die dort geboren wurden und die, die sich keine Wohnung in den besseren Vierteln Duisburgs leisten können. Das Bruckhausen-Syndrom grassiert überall – und überall sind sie dann auch plötzlich da, die Chronisten, die über das Sterben der Städte berichten wollen.

Die Frau mit dem unüberhörbaren Ruhrpott-Slang winkt ab. Sie hat sich zu Marlene K. gestellt, als sie mitbekam, dass über den Abriss gesprochen wurde. »Die ziehen für einige Tage mit der Kamera hier durch die Straßen, gehen in die Moscheen und interviewen den alten Schuldirektor, obwohl der längst in Pension gegangenen ist. Die wollen doch nur den Schimanski-Thyssen-Türken-Sermon hören und dann sind sie wieder weg.« Aber so ist das öffentliche Bild von Bruckhausen nun einmal. Geprägt wurde es von Menschen wie Günter Wallraff, der Anfang der 1980er Jahre als türkischer Gastarbeiter getarnt seinen Enthüllungsjournalismus in Bruckhausen betrieben hat oder auch von Götz George als Tatort-Schmuddel-Kommissar Schimanski. Ganz echt, aber mediengerecht präsentierte sich hingegen Bruckhausens ehemaliger Dorf-Sheriff Raulin, der für die Menschen des Stadtteils lange Zeit nicht nur Polizist, sondern auch Sozialarbeiter, Mutter und Seelsorger war.

Ein letztes Foto möchte Marlene K. noch zeigen. Es stammt aus dem Jahr 1972. Es zeigt das Taufbecken in der Liebfrauen-Kirche, über das gerade ihre Tochter gehalten wird. Die Kleine ist ganz ruhig, sie weint nicht – da gab es auch noch keine Gründe, traurig zu sein.

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