Die Notwendigkeit der Krise

  • Michael Heinrich
  • Lesedauer: 8 Min.
Dr. Michael Heinrich, 1957 geboren, ist Mathematiker und Politikwissenschaftler. Er ist Redakteur von PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft und lehrte an der FU Berlin und der Universität Wien. Zur Zeit unterrichtet Michael Heinrich an der Berliner Fachhochschule für Technik und Wirtschaft. Zuletzt veröffentlichte er »Wie das Marxsche Kapital lesen?« (2008) und »Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung« (2004).
Die Notwendigkeit der Krise

Mit der Ausweitung der Finanzkrise im vergangenen Jahr gerieten auch Person und Werk von Karl Marx verstärkt in den Blickpunkt der Medien. Wie sich an den Verkaufszahlen einschlägiger Buchtitel ablesen lässt, nahm das Interesse an Marx aber schon seit einigen Jahren kontinuierlich zu. Dass im vergangenen Herbst der erste Band des »Kapital« kurzfristig ausverkauft war, markierte nur den Höhepunkt dieser Entwicklung. Aber was hat uns Marx angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise noch zu sagen? Ist das neue Interesse für Marx vielleicht nur ein Reflex des armseligen Zustands, in dem sich die etablierten Wirtschaftswissenschaften befinden?

Vor allem die an den Universitäten dominierende Neoklassik hat zwar immer ausgefeiltere mathematische Modelle entwickelt, dabei aber den Kontakt mit den ökonomischen Realitäten weitgehend verloren. Ihre Standardmodelle gehen von vollkommener Konkurrenz, vollständiger Information und last but not least von der Gültigkeit des schon von Marx kritisierten »Sayschen Gesetzes« aus. Letzteres behauptet, dass jedes Angebot eine gleich große Nachfrage hervorrufen würde, da die Produktion des angebotenen Gutes Nachfrage nach Vorprodukten und Einkommen bei den Beschäftigten, die das Produkt herstellen, schaffen würde. Krisen können unter solchen Voraussetzungen eigentlich nicht auftreten. Treten sie doch auf, kann es nur am »irrationalen« Verhalten der Akteure oder an Schocks »von außen« (d. h. von außerhalb des Marktsystems) liegen.

Konfrontiert mit einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise erweist sich die herrschende neoklassische Lehre als völlig hilflos: Weder kann sie die Krise erklären noch kann sie sinnvolle Maßnahmen zu ihrer Überwindung vorschlagen. Die Statements ihrer Vertreter sind an Peinlichkeit kaum zu überbieten: Die Krise werde schon wieder vorbeigehen, wir wissen nur noch nicht wann, äußerte im vergangenen Jahr Wolfgang Franz, Vorsitzender des »Sachverständigenrats« der Bundesregierung. Demgegenüber stehen die Keynesianer etwas besser da. Sie halten sich an den Staat, der als einziger die ökonomische Potenz besitzt, die Nachfrageausfälle zu kompensieren. Allerdings ist auch ihre Krisen-erklärung recht dünn, läuft sie doch meistens darauf hinaus, dass der Staat in der Vergangenheit seiner kompensatorischen Rolle nicht nachgekommen sei, so dass sich Ungleichgewichte hätten kumulieren können.

Wenn nun Marx ins Spiel kommt, muss man aber zuerst fragen, um welchen Marx es sich dabei handelt? Jahrzehntelang wurde Marx in den »sozialistischen Ländern« als bloßer Stichwortgeber benutzt, mit dem die jeweilige Politik oder das, was man unter dem »Aufbau des Sozialismus« verstand, gerechtfertigt wurde. Nachdem die Entscheidungen getroffen waren, suchte man noch ein passendes Zitat, das dann als Ornament diente. »Marxismus« als eine allumfassende Weltanschauung, die angeblich auf alle wichtigen Fragen die Antwort schon bereit hält, war jedoch nicht die Sache von Marx. Als ihm sein Schwiegersohn Paul Lafargue über die Anfänge des »Marxismus« in Frankreich berichtete, rief er empört aus, »Je ne suis pas marxiste« – Ich bin kein Marxist.

Marx war Kritiker und Analytiker des Kapitalismus, wie schon der Titel seines Hauptwerkes deutlich macht: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«. Nicht selten wurde diese Kritik als eine moralische verstanden, als eine Kritik an der »Ungerechtigkeit« der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen, die im Kapitalismus stattfindet. Gerade heute wird einer solchen moralischen Kritik angesichts exorbitanter Managergehälter und Millionenabfindungen für Banker, deren Geschäftspolitik zu Milliardenverlusten führte, für die nun die Steuerzahler aufkommen müssen, eine gewisse Berechtigung zugesprochen. Damit soll es dann aber auch meistens sein Bewenden haben. Doch Marx ging es nicht um solche moralischen Kritiken. Gerade im »Kapital« schüttete er jede Menge Hohn und Spott über jene Sozialisten aus, die den Kapitalismus anhand von Gerechtigkeitsidealen und moralischen Normen kritisieren wollten.

Marx Anspruch bestand vielmehr darin, in einer wissenschaftlichen Analyse die Funktionsweise des Kapitalismus aufzuzeigen. Er wollte, wie er es im Vorwort zum »Kapital« formulierte, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft« aufdecken. Von dieser wissenschaftlichen Arbeit versprach er sich eine durchschlagende politische Wirkung: Das »Kapital«, schrieb er in einem Brief, sei das »furchtbarste missile, das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist«. Marx Analyse hatte nämlich zum Ergebnis, dass die kapitalistische Reichtumsproduktion keineswegs ein harmonisches Miteinander der gesellschaftlichen Klassen und keine Harmonie der Interessen mit sich brachte. Marx bemühte sich auf wissenschaftlichem Wege zu zeigen, dass die kapitalistische Entwicklung der Technik und der produktiven Potenzen ein notwendigerweise destruktiver Prozess war, der, wie er im ersten Band des »Kapital« schrieb, »die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter«. Nicht aus Gründen der Moral erwartete Marx den Widerstand gegen die kapitalistische Produktionsweise, sondern aus der Einsicht, dass diese Produktionsweise die elementaren Lebensinteressen der Mehrheit der Bevölkerung immer wieder beschädigen würde.
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»In jeder Aktienschwindelei weiß jeder, dass das Unwetter einmal einschlagen muss, aber jeder hofft, dass es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Goldregen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hat.«
K. Marx, MEW 23, S. 285
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Gerade die wissenschaftliche Qualität der Marxschen Argumentation ist aber heute umstritten. Die etablierte Volkswirtschaftslehre, so wie sie an deutschen Universitäten gelehrt wird, glaubt jedenfalls auf eine Beschäftigung mit Marx verzichten zu können. Auch in den soziologischen und politikwissenschaftlichen Fachbereichen kommt die Marxsche Theorie allenfalls am Rande vor. Zwar hören sich die verschiedenen »Widerlegungen«, die man der Marxschen Theorie vor allem während der Zeit des »Wirtschaftswunders« entgegengehalten hatte, dass sich der Kapitalismus jetzt krisenfrei entwickeln und den Lebensstandard auch der Lohnarbeiter beständig heben würde, heute nur noch peinlich an.

Doch besitzt ein anderer Einwand, zumindest auf den ersten Blick, eine gewisse Plausibilität: das Alter der Marxschen Kapitalismusanalyse. Kann das, was Marx vor gut 140 Jahren formulierte, angesichts der enormen Veränderungen, die seither stattfanden, überhaupt noch Relevanz beanspruchen? Dem kann man entgegenhalten, dass der Gegenstand der Marxschen Untersuchung keineswegs der englische Kapitalismus des 19. Jahrhunderts gewesen war. Wäre dies der Fall gewesen, dann hätten jene Kritiker Recht. Im schon erwähnten Vorwort zum »Kapital« stellte Marx jedoch heraus, dass ihm der englische Kapitalismus seiner Zeit, damals die am weitesten entwickelte Gestalt des Kapitalismus, nur als »Illustration« für seine theoretische Darstellung diene. Worum es Marx im »Kapital« ging, fasste er am Ende des dritten Bandes zusammen: um die Darstellung der »inneren Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt«. Nicht eine spezifische historische Ausprägung, sondern das, was den Kapitalismus zum Kapitalismus macht, was notwendigerweise zum Kapitalismus gehört, bildete den Gegenstand der Marxschen Untersuchung.

Und mit dieser Untersuchung war Marx seiner Zeit mitunter weit voraus. Was er im ersten Band des »Kapital« als »Produktion des relativen Mehrwerts« analysierte, den Zusammenhang von kapitalistischer Produktivkraftentwicklung, Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit einhergehender Steigerung des Mehrwerts, funktioniert erst dann, wenn die Masse der von den Arbeitern und Arbeiterinnen verbrauchten Lebensmittel und Konsumgüter kapitalistisch produziert wird. Erst dann kann sich die Steigerung der Produktivkräfte in der von Marx analysierten Weise auswirken. Dies war aber erst im 20. Jahrhundert der Fall, als mit dem »Fordismus« die Massenproduktion langlebiger Konsumgüter einsetzte und den Konsum der Arbeiterklasse von Grund auf veränderte.

Auch Marx' nicht zu Ende geführte Analyse des Kreditsystems im dritten Band des »Kapitals« wirkt heute aktueller als im 19. Jahrhundert. Marx zeigte nicht nur, dass eine wachsende kapitalistische Ökonomie ohne ein wachsendes Finanzsystem gar nicht möglich ist. In seiner Analyse des »fiktiven Kapitals« demonstrierte er auch, wie die Finanzmärkte, an denen »Ansprüche« auf künftige Erträge gehandelt werden, dazu tendieren, alles zu verdoppeln und zu verdreifachen: Ansprüche auf andere Ansprüche hervorzubringen, Schulden durch ihre Zirkulation in neues Kapital zu verwandeln und dabei riesige Kreditpyramiden aufzubauen, die nach einer Weile einstürzen müssen.
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»In der Tat (...) geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierten Völker (...), so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen.«
F. Engels, MEW 19, S.218
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Vor allem aber analysierte Marx die krisenhafte Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise und formulierte damit einen entscheidenden Kontrapunkt zur herrschenden Wirtschaftstheorie. Der moderne Kapitalismus ist nicht nur die dynamischste Produktionsweise der menschlichen Geschichte, die zu einer noch nie da gewesenen Entwicklung der Produktivkräfte geführt hat, sie erreicht diese Dynamik nur, indem sie ihrem bornierten Zweck nachjagt, der Maximierung des Profits.

Bereits in dieser ersten und grundlegendsten Bestimmung des Kapitals ist die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus angelegt, denn die Profitmaximierung schließt einen grundlegenden Widerspruch ein: auf der einen Seite Entwicklung der Produktivkräfte und damit einhergehend Ausweitung der Produktion, auf der anderen Seite Einschränkung der gesellschaftlichen Möglichkeiten des Konsums dieser Produktion, sowohl durch die Beschränkung der Zahl der Arbeitskräfte auf das unabdingbar Notwendige als auch durch das Herunterdrücken der Löhne. Diese Lücke zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen Produktion und der gesellschaftlichen Konsumtion kann zwar durch die Investitionen der kapitalistischen Unternehmen geschlossen werden. Doch erfolgen diese Investitionen nur dann, wenn auch in Zukunft hohe Profite erwartet werden und wenn diese zukünftigen Profite höher ausfallen als die Gewinne, die an den Finanzmärkten prognostiziert werden.

Diese beiden Bedingungen werden aber immer wieder verletzt, so dass sich das Auseinanderklaffen von Produktion und Konsumtion in einer Krise äußert. In einer kapitalistischen Ökonomie verdanken sich Krisen nicht »von außen« kommenden Störungen, es handelt sich auch nicht um Betriebsunfälle, die im Prinzip vermeidbar wären; Krisen werden vielmehr vom Kapitalismus selbst immer wieder hervorgebracht. Dabei wirken sich die Krisen sowohl für die vielen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, wie auch für die zahlreichen Unternehmen, die bankrott gehen, zerstörerisch aus. Für die kapitalistische Ökonomie haben Krisen insgesamt aber eine produktive Funktion: Mit den Pleite gegangenen Unternehmen verschwinden Überkapazitäten, bei einer steigenden Zahl von Arbeitslosen lassen sich die Löhne besser drücken, beides verbessert die Profitabilität der übrig gebliebenen Unternehmen, gleichzeitig führt der Überlebenskampf der Unternehmen zur Beseitigung ineffizienter Strukturen. Große Wirtschaftskrisen bringen regelmäßig einen Innovations- und Modernisierungsschub mit sich: Der Kapitalismus bringt nicht nur mit Notwendigkeit Krisen hervor, er hat sie auch bitter nötig, um sich weiterzuentwickeln. Wer diese Prozesse verstehen will, wird um eine Auseinandersetzung mit den Marxschen Analysen nicht herumkommen.

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