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Marodes Gesundheitssystem: Ein Problem anderer Leute

Der Chef des Krankenkassenverbandes hat einen ganz eigenen privilegierten Blick auf die Schwächen der deutschen Gesundheitsversorgung. Ein Kommentar

Auf Wartezimmer in überlaufenen Praxen von Allgemeinärzt*innen hat wirklich niemand Lust.
Auf Wartezimmer in überlaufenen Praxen von Allgemeinärzt*innen hat wirklich niemand Lust.

Manchmal lohnt es sich, genauer hinzuhören. Etwa, wenn die »FAZ« den frisch gekrönten Chef des Krankenkassenverbandes interviewt. In solchen Spitzengesprächen gibt es keine Zufälle: Meist werden Fragen vorab abgestimmt, das Interview vor Veröffentlichung noch mal genehmigt. Umso interessanter ist es, was dann am Ende noch stehenbleibt.

»Herr Blatt, wie lange halten die Kranken- und die Pflegeversicherung noch durch?« wird gefragt und zugleich ein Klassenstandpunkt gemacht: Keiner der Beteiligten, weder die Spitzenjournalist*innen noch der Manager oder die FAZ-Adressat*innen, sind von der GKV abhängig; sie alle sprechen über die Sozialsysteme als ein Problem anderer Leute – ärmerer Leute. Der Manager beschwört pflichtschuldig sein Vertrauen in das System, um dann auf die »hohen Ausgaben« zu kommen.

Leo Fischer
Leo FischerFoto ist privat, kein Honorar

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Im Folgenden geht es den Gesprächspartner*innen nur darum, die Natur dieser Ausgaben festzulegen. Sachlich richtig wird festgestellt, dass das System im Vergleich zur Lebenserwartung zu teuer ist – um dann den Fokus nicht auf Verschwendung, Missmanagement, Glaspaläste und Homöopathiezulagen zu setzen, sondern auf die Patient*innen. »Jeder dritte Euro«, konstatiert der Manager, »fließt in die Krankenhäuser« – dass die inzwischen profitgetriebene AGs sind, die lieber Hüftgelenke am Fließband implantieren, statt wenig profitable Alltagserkrankungen zu behandeln, fällt unter den Tisch.

»Wie wäre es mit Leistungskürzungen«, suggerieren die Journalist*innen diensteifrig; der Manager will zwar an der Versorgung nicht sparen, aber »auf Liebgewordenes verzichten«. Das klingt nach Bequemlichkeit, nach Verzärtelung, Dekadenz; gemeint ist das »Krankenhaus nebenan«. Es dürfe auch nicht sein, »dass Menschen ohne akute Notlage … die Notaufnahmen blockieren«. Warum sich niemand mehr überlaufene Allgemeinärzt*innen aufzusuchen traut, sondern wartet, bis es nicht mehr auszuhalten ist – das muss ein Rätsel sein für all diejenigen, die nicht davon betroffen sind.

Ferner plädiert er für das Hausarztsystem. Komplett überlastete Allgemeinpraxen, die schon jetzt im Fünf-Minuten-Takt Patient*innen durchschleusen, sollen dann noch zusätzlich festlegen, »dass der Facharzttermin noch etwas Zeit hat«, werden also für die Quengelverwaltung gebraucht. In Frankfurt am Main wartet man als Gesetzlicher derzeit sechs zu Monate auf einen Facharzttermin; mit dem Primärarztmodell kriegt man das aber bestimmt noch zweistellig. »Physician Assistants«, Hybridwesen »zwischen Pflegekraft und Arzt«, von denen der Manager orakelt, sollen künftig anscheinend die Anwesenheit von Ärzt*innen simulieren, ohne so viel zu kosten. Am Ende gibt es noch einen Appell an die Pharmafirmen, bitte nicht so gierig zu sein, sondern den Deutschen doch gute Preise zu machen.

Patient*innen als verwöhnte Kinder, die das System verstopfen und nicht artig mit ihrer Blasenentzündung warten, bis der supereffiziente »Physician Assistant« am anderen Ende des Bundeslandes einen Fünf-Minuten-Behandlungs-Slot aufgetan hat – so stellt sich das Gesundheitssystem wohl für Leute dar, die es nicht brauchen.

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