Kleist, Spitzeder, der Schneeball

Angst und Weltwirtschaftskrise – kein psychologisches Problem

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, dass ich vielleicht von allem scheiden müsste, was mir teuer ist.

Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt.

So schrieb 1800 der als preußischer Offizier und als Student der Mathematik gescheiterte Heinrich von Kleist an seine Braut Wilhemine von Zenge. Bis heute streiten die Germanisten, was dieser wichtigste Tag im Leben des jungen Mannes gewesen sein könnte, der mit seinem Freund Ludwig von Brockes nach Würzburg gereist war.

Von einer Operation bis zum Spionageauftrag, von der Aufnahme in eine Freimaurer-Loge bis zur Teilnahme an einem Glücksspiel reichen die Deutungen. Nachgewiesen ist nichts, außer dass beide viel Geld ausgaben und Kleist seine Schwester bat, seine Schulden bei Brockes zu begleichen.

Den Trost vom Gewölbe, das deshalb hält, weil alle Steine auf einmal stürzen wollen, den können wir in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise gut gebrauchen.

Wenn ein kleiner Bauunternehmer überschuldet ist, muss er zum Insolvenzrichter seines Heimatortes. Er darf nicht zu spät kommen, sonst riskiert er eine Strafe. Wenn eine Bank überschuldet ist, hilft ihr der Staat. Und wenn der Staat überschuldet ist? Dann verschleppt er die Insolvenz durch Inflation. Und wenn, wie wir heute wissen, die Gesamtsumme der faulen Papiere, die von internationalen Finanzexperten weltweit verkauft worden sind, fünfzehn mal größer ist als das globale Bruttosozialprodukt?

Kann die Weltwirtschaft Insolvenz anmelden? Bei wem? Ich zögerte lange, aus psychologischer Sicht etwas zu sagen. Denn in aller Munde ist die Vertrauenskrise, Psychologen sind gerufen, etwas dagegen zu tun, um verunsicherte Bürger vom Schrecksparen abzubringen und die Binnennachfrage anzukurbeln. Die Exporte schrumpfen.

Und für Vertrauen sind die Psychologen zuständig. Wer jetzt nicht ganz schnell wieder seinem Bankberater und seinem fürsorglichen Abgeordneten vertraut, der muss neurotisch sein und braucht dringend Psychotherapie oder wenigstens Psychopharmaka.

Ich glaube aber nicht, dass wir eine kleine, in den Subjekten wurzelnde Vertrauenskrise haben. Ich fürchte, wir haben eine große und unleugbar objektive Krise, die in der Tatsache wurzelt, dass uns genau jene Experten neoliberaler Wirtschaftsführung, die sich unser Vertrauen zurückwünschen, in Schneeballsysteme verwickelt haben, mit denen verglichen Adele Spitzeder und Bernhard L.Madoff harmlos sind.

Adele Spitzeder war eine überschuldete Münchner Schauspielerin, die 1869 eine Bank gründete und enormen Zulauf hatte, weil sie so hohe Zinsen zahlte, dass die Bauern aus dem Umland ihre Höfe verkauften. 31 000 Bürger wurden um acht Millionen Gulden geprellt; viele begingen nach der Pleite Selbstmord. Berhard L.Madoff ist ein New Yorker Banker, der ebenfalls höchste Zinsen für seine Hedge-Fonds versprach. Er hat eine viel höhere Zahl von Kunden um fünfzig Milliarden Dollar geprellt.

Ich werde den Verdacht nicht los, dass das Schneeballsystem zum Prinzip wurde. Nur ist der Schneeball zu unübersichtlich, um ihn zu sehen. Nach jedem kleinen Versagen der Politik richten wir Untersuchungsausschüsse ein. Aber angesichts der gegenwärtigen, in ihren Ausmaßen vermutlich gigantischen Krise wird um Vertrauen geworben, ehe der Bürger aufgeklärt wird, wie alles kam.

So ist das Misstrauen kein psychologisches Problem. Das wäre eher sein Mangel. Auch die Angst vor der Zukunft ist kein psychologisches Problem. Das wäre eher die blinde Zuversicht, dass wir uns am eigenen Vertrauen aus dem Sumpf ziehen können wie weiland Münchhausen am eigenen Schopfe.

Dr. W. Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker in München, er ist Autor zahlreicher Bücher.

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