Sellering, Seidel – und Tillich

Wieder Streit um DDR

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 2 Min.
Erwin Sellering
Erwin Sellering

Wäre die DDR der schiere »Unrechtsstaat« gewesen, wäre – wie das Wort nahelegt – also alles, was diesen Staat ausgemacht und was er getan hat, »Unrecht« gewesen, wären alle schuldig, die ihn verkörpert haben. Zum Beispiel Jürgen Seidel, der lange Jahre als Funktionär des Rates des Kreises Waren an der Müritz für Umwelt und Tourismus zuständig war. Heute ist Seidel, CDU-Mitglied seit 1971, Landesschef der Union, stellvertretender Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern und Wirtschaftsminister.

Direkt unter Seidels Konterfei taucht auf der CDU-Internetseite die Erklärung des Landtagsabgeordneten Harry Glawe auf, der den Ministerpräsidenten der »Relativierung« von DDR-Untaten zeiht, nachdem dieser einer Sonntagszeitung gesagt hatte, die DDR sei kein »totaler« Unrechtsstaat gewesen. Kein Problem für die Kraft, die das gute Gewissen gepachtet hat. Und kaum verwunderlich in einer Partei, die für die eigene DDR-Geschichte nach dem Bekanntwerden von Stanislaw Tillichs Biographie gerade mal eine halbe Stunde brauchte.

Man müsste Erwin Sellering nun beistehen. Gegen Leute wie Glawe oder den Nordost-Jungpolemiker Marc Reinhardt (CDU). Gegen den Vorwurf, er verharmlose das »Kapitalverbrechen« Berliner Mauer, den der Berliner Grüne Werner Schulz erhebt. Gegen Journalisten, die aus einer Meldung, in der Sellering die Kinderbetreuung gelobt hatte, Überschriften wie »Sellering findet viel Gutes an der DDR« basteln.

Doch hat sich die SPD zuletzt nicht weniger bigott verhalten: Als der Schweriner Linkspartei-Mann Torsten Koplin im Herbst sagte, bei allem staatlichen Unrecht sei die DDR kein »Unrechtsstaat« gewesen, gab ausgerechnet Sellerings Nordost-SPD, wenn auch anonym, ihr »Unverständnis« zu Protokoll. Als Linkspartei-Vize Bodo Ramelow erklärte, er halte die DDR »nach meiner Definition« nicht für einen Rechtsstaat, werde das geladene Wort aber nicht benutzen, forderte ihn die SPD zum Rückzug auf. Immerhin bleibt Matschie bei dieser Position, auch wenn es nun um einen Parteifreund geht.

Es ist schwerlich vertretbar, Bürger wegen Meinungen einzusperren oder auszuweisen. Es ist nicht zu rechtfertigen, wenn Menschen an einer Grenze planmäßig zu Tode kommen. Beides war nicht nur in der DDR der Fall, dort aber besonders. Die DDR war kein Rechtsstaat im Sinn des Grundgesetzes; sie wollte das nie.

Ist aber alles Unrecht, was nicht in einem Rechtsstaat geschah? Darf man Mauertote gegen Krippenplätze aufrechnen, aber nicht Krippenplätze gegen Mauertote? »Rechtsstaat« ist ein Terminus technicus. »Unrechtsstaat« dagegen ein politischer Begriff. Wer beides vermengt, gerät auf eine schiefe Ebene. Die meisten Historiker wissen das. Viele Politiker offenbar nicht.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal