Hoffnung war gestern

Wirtschaftskrise – trieb sie die politische Krise an oder umgekehrt?

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Ist es Zufall, dass die politisch-moralische Krise der britischen Labour-Regierung und die Finanz- und Wirtschaftskrise Hand in Hand gehen? Was war zuerst da, Henne oder Ei? Und: Wer ist hier Henne und Ei? Aus London kommt momentan nichts, was sich wie eine Antwort anfühlt.

Das Land, das ein Empire verlor und eine neue Rolle nicht fand, hat unter Margaret Thatcher, deren Amtsantritt sich am 4. Mai zum 30. Mal jährt, das Tafelsilber in Form seiner produzierenden Industrie verhökert und geglaubt, das von aller Regulierung befreite Finanz- und Spekulationswesen in der City of London könne dauerhafter Ersatz sein. Die privaten Schulden in Britannien betrugen zuletzt 1,5 Trillionen Pfund – mehr als das Land heute pro Jahr herstellt und anteilig mehr als irgendwo sonst in Europa.

Die Kreditkrise des Westens trifft die Insel heftig wie kaum ein zweites Land, das Königreich wird bereits »Island an der Themse« geheißen, während sich metaphernmüde Geister damit begnügen, den Staat pleite zu nennen.

Im September sind es zehn Jahre, dass der damalige Premier und New Labour-Begründer Tony Blair verkündete: »The class war is over«. Er meinte damit das Ende des Solidaritätsgedankens in der Arbeiterschaft. Heute, da das Land wieder auf drei Millionen Arbeitslose zugeht, da alle sieben Minuten ein Brite sein Haus verliert, da Banker überlegen, ob sie sich zum Schutz ihrer Familie Waffen kaufen – in dieser Lage wird vom Ende des Klassenkampfes wieder seltener gesprochen. Theaterautor Alan Ayckbourn (ist am 12. April 70 geworden) hat an dessen Verschwinden nie geglaubt: »Setzen Sie drei Engländer auf einer einsamen Insel aus, und innerhalb einer Stunde führen sie ein Klassensystem ein.« Auch der frühere Erzbischof von Canterbury, George Carey, lässt keinen Zweifel: »Wir haben nach wie vor eine scharf in Klassen getrennte Gesellschaft.«

Der schottische Schriftsteller Andrew O'Hagan bestreitet das ebenso wenig. Er fügt aber etwas Wichtiges an: Die englische working class, die einst die Belegschaft für die Werkstatt der Welt stellte, habe ungefähr ab der Zeit von Blairs Rede übers Ende des Klassenkampfes ihre Werte vergessen: »Etwa ab Ende der 90er Jahre war die englische Arbeiterklasse keine arbeitende Klasse mehr – ihre Traditionen, Bräuche und Jobs, mitunter sogar ihre Sprache machte neuen Formen der Transzendenz Platz. Sie sind von den Verlockungen der Promi-Kultur, der Kreditkarten und dem falschen Leben der Superreichen bestimmt.« Das habe zur Entmannung der Arbeiterklasse beigetragen, zu neuen Ausmaßen von Depression unter Kindern der Armen, von denen viele in Familien leben, die in dritter Generation arbeitslos sind. »Arme Schweine mit viel Freizeit waren Blairs Gabe an die Nation, Menschen, die nicht mehr nach Werten, sondern nach Designerklamotten und Satellitenschüsseln trachteten. Es macht niemandem Freude festzustellen, dass die englische Unterklasse heute die konservativste Kraft in Britannien ist, in manchen Bereichen faschistoid, wie unter Drogen aus auf Rache und Boulevardblätter, Alcopops und Nostalgie.«

Von »Cool Britannia«, dem vor gut zehn Jahren im Namen New Labours von Blair und seinem damaligen Finanzminister Brown erzeugten Hype, ist wenig übrig geblieben. Stryker McGuire, Journalist von »Newsweek« (USA) und Schöpfer des damals gern gesponnenen Etiketts, hat in einem langen Artikel für den »Guardian« seine Schöpfung »Cool Britannia« zu Grabe getragen. Zur Begründung schrieb er: »Optimismus ist zu einer Sache von gestern geworden«. Hoffnung, hätten ihm Briten wieder und wieder gesagt, »wird bei uns nicht mehr geführt«.

In solcher Situation ist es nicht ganz überraschend, wenn auch die Labour-Regierung Browns – des Mannes also, der vor zwei Jahren Blair mit dem Versprechen beerbte, die politische Substanz über die Präsentation in den Vordergrund zu rücken, Transparenz über Korruption – zu neuer Kenntlichkeit gebracht wurde: Damian McBride, ein Berater, musste erst nach auffälligem Zögern des Premiers seinen Hut nehmen. Im Auftrag Browns, der seit je als Kontroll-Freak gilt und vor 15 Jahren, als Blair und nicht er Labour-Führer geworden war, den Fernseher eintrat, über den die Meldung lief, in dessen Auftrag hatte McBride eine Verleumdungskampagne gegen Politiker der oppositionellen Konservativen inszeniert. Die flog auf. Zu den »Appetitlichkeiten« der Aktion gehörten Behauptungen, Oppositionsführer David Cameron, andere Tory-Spitzen und deren Angehörige seien geschlechtskrank, nähmen Drogen oder seien psychisch auffällig.

Brown hat damit sein kleines Restkapital an Glaubwürdigkeit verbraucht. Die Torys, die keine tauglichen Rezepte zur Lösung der schwersten Krise seit Menschengedenken haben, führen vor den spätestens Sommer 2010 fälligen Parlamentswahlen mit wachsendem Umfragevorsprung. Heute steht die Haushaltsrede von Browns Schatzkanzler an. Auch sie wird an der Malaise wegen der Krisenfolgen wenig ändern. Die Ideenschublade New Labours ist leer. Bloßer Machterhalt – darin immerhin hat er, in beiden politischen Systemen viele Vorgänger – ist Brown wichtiger geworden als Leistung.

So mischen sich Finanz- und moralische, Wirtschafts- und politische Krise. Die Antwort auf die Frage, wer hier eigentlich was ausgelöst hat, macht das nicht einfacher. Für diejenigen, die mit den Folgen leben müssen, ist das aber nachrangig. Fast so zweitrangig wie die bizarre, ganz britische Note, mit der für die Insel Annus horribilis 2009 begann: mit dem Kauf des »Evening Standard«, Londons einziger Abendzeitung, durch Alexander Lebedew.

Der Milliardär ist der erste russische Oligarch im Besitz einer namhaften britischen Zeitung. Und noch ein Novum lässt sich als Indiz des Niedergangs vormals großer Reiche deuten: Erstmals übernahm damit das frühere Mitglied eines ausländischen Geheimdienstes einen britischen Zeitungstitel. Lebedew war Ende der 80er-Jahre als KGB-Agent in der UdSSR-Botschaft in London aktiv. Zu seinen Aufgaben gehörte die Auswertung britischer Blätter. Dabei habe er sich in den »Evening Standard« verliebt. Systemübergreifend.

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