Um religiöse Inhalte ging es gar nicht

Norbert Hocke vom GEW-Bundesvorstand über die Auswirkungen des Ergebnisses des Volksentscheids

  • Lesedauer: 3 Min.
Das Berliner Modell eines verpflichtenden gemeinsamen Ethikunterrichts kombiniert mit dem zusätzlichen freiwilligen Besuch des Fachs Religion hat sich bewährt, meint Norbert Hocke von der Bildungsgewerkschaft GEW, der dort dem Vorstandsbereich Jugendhilfe und Sozialarbeit vorsteht. Der gelernte Erzieher, der in den 1970er Jahren als Bildungsreferent beim Bischöflichen Jugendamt Berlin und beim Bund der deutschen katholischen Jugend arbeitete, setzt sich für ein Pflichtfach Ethik/Religion/Weltanschaung ein, in dem konfessionell gebundene und ungebundene Lehrkräfte gemeinsam unterrichten.
Um religiöse Inhalte ging es gar nicht

ND: Der Volksentscheid der Initiative Pro Reli zur Einführung eines Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion ist am Sonntag nicht nur am fehlenden Quorum von 25 Prozent gescheitert, sondern hat auch unter den Berlinern, die zur Wahl gingen, keine Mehrheit bekommen, und das trotz einer Medienkampage, an deren Spitze die Blätter des Axel-Springer-Konzerns standen. Hat Sie dieses Votum gegen ein Pflichtfach Religion überrascht?
Hocke: Nein, denn eine Reihe von Vertretern der Initiative waren in ihrer Argumentation nicht ehrlich. Es ging auch um die Frage, auf welcher Basis Religionslehrer in Berlin angestellt und bezahlt werden sollen. Auf der Basis des Berliner Modells des Werteunterrichts, in dem Religion ein freiwillig gewähltes Fach ist, zahlt der Staat den Kirchen 90 Prozent der Personalkosten. Wäre Religion ordentliches Pflichtfach, würden die Kirchen mehr Geld erhalten. Hätte »Pro Reli« dies öffentlich auch so gesagt, hätte man auf einer offeneren und ehrlicheren Grundlage diskutieren können.

In der öffentlichen Auseinandersetzung über das Pro und Kontra des Religionsunterrichts in Berlin spielten entgegen den Aussagen der Initiatoren des Volksentscheids religiöse Fragen also gar keine Rolle?
Es war ein öffentlicher Schlagabtausch, der über Prominente aus dem Mediengeschäft geführt wurde, und der in der Hochphase den Charakter eines Kulturkampfes hatte. Es gab weder in der Schülerschaft noch unter den Eltern eine ernsthafte Debatte über religiöse Inhalte im Werteunterricht. Ausgeblendet wurde vollständig, dass sich das Konzept von Lebenskunde und Religion in den Berliner Grundschulen als freiwillige Fächer durchaus bewährt hat. Es ärgert mich gerade als gebürtiger Berliner, dass durch »Pro Reli« der Stadt von Außen eine Diskussion aufgedrückt wurde, die in der Stadt selbst so nie geführt worden wäre.

Sie kommen selbst aus der kirchlichen Arbeit, Kirchenfeindschaft kann man Ihnen also nicht vorwerfen. Könnte das Berliner Modell des Werteunterrichts ein Vorbild auch für andere Bundesländer sein?
Das Berliner Modell hat sich bewährt. In den anderen Bundesländern sollte ein Pflichtfach Ethik/Religion/Weltanschauung den Religionsunterricht ersetzen. Dies könnte zum Beispiel so aussehen, dass von zwei Unterrichtsstunden pro Woche eine Stunde gemeinsam gelernt wird und eine Stunde die Schülerinnen und Schüler nach ihren jeweiligen religiösen Überzeugungen bzw. Neigungen lernen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es angesichts des wachsenden Anteils von Menschen, die aus einem nichtchristlichen Kulturkreis stammen, in Zukunft immer stärker auf den Dialog zwischen den Kulturen und Religionen ankommen wird. Darauf muss der Staat reagieren.

Die Realität ist heute also eine andere als 1949 bei der Verabschiedung des Grundgesetzes, als die Väter und Mütter desselben den Kirchen das Recht auf ein ordentliches Unterrichtsfach Religion an staatlichen Schulen einräumten?
So ist es, und dieser geänderten Realität muss heute Rechnung getragen werden.

Die nichtchristlichen Religionsgemeinschaften spielten in der Debatte um den Volksentscheid so gut wie keine Rolle, sie sind aber wichtig, denn mittlerweile stammen fast 43 Prozent der Kinder unter 15 Jahren aus Einwandererfamilien, viele davon aus islamisch geprägten Kulturen. Wie sollten denn Ihrer Meinung nach die nichtchristliche Glaubensgemeinschaft in einen Werteunterricht an der Schule integriert werden?
Mit den islamischen Verbänden, die bereit sind, in einen Dialog mit dem Christentum, den Juden und den Ethiklehrerverbänden zu treten, muss der Staat eine gemeinsame Basis finden. Wir brauchen aber dort Vereinbarungen, wie sie der Staat auch mit den beiden christlichen Kirchen geschlossen hat. Grundlage muss daher sein, dass die Ausbildung von Lehrern in diesem Bereich letztlich von den jeweiligen Kultusministerien abgenommen wird.

Gespräch: Jürgen Amendt

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