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Verhütung für Arme

Parteien im Nordosten fordern die kostenlose »Pille« bei Hartz IV

  • Velten Schäfer, Schwerin
  • Lesedauer: 4 Min.
FDP und LINKE sind schon lange dafür, bedürftigen Frauen auch jenseits der 20 Verhütungsmittel wie die Anti-Baby-Pille zu bezahlen. Nun schwenkte auch die Koalition um. Eine Studie belegt eine größere Gefahr ungewollter Schwangerschaften bei bedürftigen Frauen seit der Einführung von »Hartz IV«. Insgesamt sind die Abtreibungen aber rückläufig.

Es kommt nicht oft vor, dass eine kleine Oppositionspartei sich gegen eine Große Koalition durchzusetzen vermag. In Mecklenburg-Vorpommern scheint der seltene Fall einzutreten: Die Fraktionen von SPD, CDU und FDP kündigten am Montag einen gemeinsamen Parlamentsantrag an, für den die Freidemokraten schon lange streiten: Die Landesregierung soll verpflichtet werden, eine stark ermäßigte Anti-Baby-Pille für Frauen zu prüfen, die über 20 Jahre alt sind und von »Hartz IV« leben.

Modellprojekt im zweiten Anlauf

Ein ähnliches »Modellprojekt zur Reduzierung von Schwangerschaftsabbrüchen« hatte die FPD bereits vor zwei Jahren erfolglos gefordert. Der Antrag hatte es nicht einmal in den Ausschuss geschafft, obgleich ihn die Linksfraktion unterstützt hatte. Während die FDP sich nun ihres Sieges freuen kann, kritisiert die Linkspartei-Sozialexpertin Irene Müller die Koalition: Es sei scheinheilig, auf einmal seine Meinung zu ändern – und zynisch, erst einen umständlichen Prüfungsprozess in Gang zu setzen, anstatt sofort zu helfen.

Jedenfalls haben die Regierungsfraktionen ihre Meinung geändert. SPD-Fraktionschef Norbert Nieszery begründet das mit »Analysen«, die gezeigt hätten, »dass bedürftige Frauen zunehmend aus finanziellen Gründen auf sichere Verhütungsmittel verzichten und in der Tendenz häufiger ungewollt schwanger werden«. Auch andernorts gibt es in der SPD inzwischen eine Diskussion über die »Pille für Arme«: In Nordrhein-Westfalen hat der SPD-Landesparteitag erst jüngst auf Antrag der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) beschlossen, eine entsprechende Regelung anzustreben: Auf Wunsch Verhütungsmittel auf Staatskosten für Frauen mit geringem Einkommen, etwa für Hilfeempfängerinnen – aber auch Studentinnen. Die ASF hatte ursprünglich auch eine Kostenübernahme für Sterilisationen vorgeschlagen, diese fehlte allerdings im Antrag.

Während die SPD bei dem ideologisch heiklen Thema also im Bundestrend liegt, geht die CDU im Nordosten einen Sonderweg. Ihr Gesundheitssprecher Günter Rühs erklärte, es sei richtig, die Zahl der Abtreibungen auch auf dem Weg der Verhütung zu senken. In Nordrhein-Westfalen dagegen reagierte die Union scharf auf die Forderung nach staatlicher Hilfe für Verhütung. »Wir müssen Kinderarmut bekämpfen, nicht das Kinderkriegen«, sagte der NRW-CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst. Die SPD wolle Hartz IV-Empfängerinnen und Geringverdienerinnen »Sterilisation oder die Anti-Baby-Pille staatlich verordnen«, befand er. Das sei diskriminierend gegenüber den betroffenen Frauen. Es dürfe keine Situation entstehen, in der Frauen sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, trotz materieller Probleme schwanger zu werden.

Ungewollt schwanger durch Hartz IV

Bis 2004 zahlten die Sozialämter auch bei über 20-jährigen Bedürftigen die Verhütungsmittel. Seit dem Inkrafttreten des »Gesundheitsmodernisierungsgesetzes« ist das nur noch in wenigen Ausnahmefällen möglich. Eine Studie der Hochschule Merseburg hat zudem ergeben, dass die Quote der Hilfeempfängerinnen, die nach eigenen Angaben stets verhüteten, seit »Hartz IV« von 67 auf 30 Prozent gesunken sei. Zudem griffen die Bedürftigen oft auf günstigere und weniger sichere Verhütungsmethoden wie das Kondom zurück. Insofern müsse von einer erhöhten Gefahr ungewollter Schwangerschaften bei verarmten jüngeren Frauen ausgegangen werden.

Andererseits gab es in Mecklenburg-Vorpommern vergangenes Jahr insgesamt 3111 Schwangerschaftsabbrüche – zwar 17 mehr als im Jahr zuvor, aber doch weniger als 2001. Damals wurden Verhütungsmittel noch bezahlt, trotzdem gab es 3600 Abtreibungen.

Während die Parteien argumentieren, Mecklenburg-Vorpommern sei vergangenes Jahr eines von nur drei Ländern gewesen, in dem die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche angestiegen sei, lässt sich auch eine andere Rechnung im Hintergrund vermuten: Die Abtreibungen bei Hilfeepfängerinnen werden letztlich vom Land getragen. Jede kostet etwa 400 Euro.


Pille für Bedürftige

  • Seit dem Inkrafttreten des »Gesundheitsmodernisierungsgesetzes« im Jahr 2004 bezahlen die Ämter bei über 20-jährigen Hilfebedürftigen keine Verhütungsmittel mehr.
  • Laut einer Pilotstudie der Hochschule Merseburg ist seit »Hartz IV« der Anteil der regelmäßig und sicher verhütenden Hilfebezieherinnen von 67 auf 30 Prozent gesunken.
  • Insgesamt ist aber in Deutschland die Zahl der Abtreibungen rückläufig. Im Nordosten gab es vergangenes Jahr mehr Abbrüche als im Jahr zuvor, aber deutlich weniger als vor »Hartz IV«
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