Jedem seine Geisterbahn

Judith Kuckart: »Die Verdächtige«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Von Anfang an ist da etwas Zwiespältiges, spürt Robert Mandt, der Kriminalhauptkommissar, als er dieser Frau begegnet: »Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Der Kragen eines altmodischen Mantels fiel ihr wie ein riesiges Rabarberblatt über die Schultern. War sie sechzig? Aus dem Kragen wuchs ein Mädchennacken, und das hochgesteckte Haar war blond, mit einem Ton Asche darin. Die Spange am Hinterkopf schimmerte rosa.« Dann dreht sie sich zu ihm um, und er erkennt, dass sie trotz des verwehten Gesichts Ende dreißig ist. Also ungefähr in seinem Alter. Sie heißt Marga Burg, ist angestellt beim örtlichen Straßenverkehrsamt und wohnt, wie sich herausstellt, mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder in der Wohnung der Eltern, die beide früh gestorben sind. Was sie dann, unvorstellbar gefasst, zu Protokoll gibt, klingt mehr als abenteuerlich: Ihr Freund Matthias Böhm, ein Filmmensch, den sie, die eigentlich nie in Urlaub fährt, auf Sylt kennengelernt haben will, ist während eines Kirmesbesuchs in der Geisterbahn verschwunden. Er sei allein gefahren und nicht mehr aus dem Tunnel herausgekommen. Eigene Nachforschungen, die sie im Anschluss unternommen habe, seien allesamt fehlgeschlagen. Matthias bleibe verschwunden.

Obwohl Robert, mehr noch aber seiner jüngeren Kollegin Nico dieser Bericht merkwürdig vorkommt, nehmen sie die Suche nach dem Vermissten auf – zumal Robert, dessen Frau sich unlängst von ihm getrennt hat, den irgendwie verborgenen Reizen der spröden Marga zu erliegen scheint. »Sie hatte etwas Ernstes und Verwunsches zugleich«, glaubt er zu bemerken.

Und schon ist er gefangen. Die Warnungen der Kollegin erreichen ihn nicht, wiewohl Verdachtsmomente gegen Marga keimen. Marga reist Robert hinterher, als der eine Vortragsreise in den Osten unternimmt, und in der Wohnung eines Dresdner Kollegen schlafen sie endlich miteinander. Erst als auf ihn nach der Rückreise in seiner Wohnung mehrere Schüsse abgefeuert werden, er kurzfristig wieder bei seiner Frau unterkommt und dort bemerkt, dass auch seine Frau offensichtlich eine Affäre mit dem Verschwundenen hatte, vollzieht er eine Kehrtwendung. Schließlich gesteht Marga, was man als Leser ohnehin schon längst vermutet hat ...

Ein spannender Krimi, den wir am Ende beruhigt zuklappen? Judith Kuckarts Roman, der mit allen Versatzstücken und Erkenntnissen des Genres ausgestattet ist, funktioniert anders. Die Autorin, die zuletzt einen Zeitroman über die 50er Jahre (»Kaiserstraße«, 2006), davor ebenfalls Romane mit historischen Bezügen (etwa »Die schöne Frau«, 1997; »Lenas Liebe«, 2004) vorgelegt hat, widmet sich grundsätzlichen Problemen und existenziellen Krisenszenarien. Statt einer Lösung und scheinbarer Harmonie – Irritation, Fragen, Probleme. Bilder und Eindrücke bleiben haften, bestürzen: Da weckt zunächst dieses ungleiche Geschwisterpaar unser Erstaunen. Die distanzierte, auratisch umwölkte Marga und ihr fettleibiger Bruder, dieses Riesenkind – wie kommen sie überhaupt durchs Leben? Da ist zum anderen die Figur des Kommissars mit seinen Frauenproblemen eines »schönen Mannes«, der wie George Clooney aussieht und »zu langsam für die großen Gefühle« ist.

Schließlich überhaupt das Leben: Was bedeuten schon Ordnung, Sicherheit und Rationalität darin? Und wieweit tragen eigentlich solche Konzepte? – Ist es nicht vielmehr so, wie es Robert einmal aufblitzt, dass jeder Mensch in seiner eigenen »Geisterbahn« sitzt, mehr oder weniger in einem, wie sich Marga im Verhör ausdrückt, »Angstraum«, »und manchmal ist die Streckenführung im Leben so blöd, dass man im Dunkeln zusammenstößt, die Wucht des Zusammenpralls löst die falschen Gefühle aus, und plötzlich ist jeder mit jedem verwandt.«

Judith Kuckart: Die Verdächtige. Roman. DuMont. 288 S., geb., 19,90 €.

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