Gespenst der Nutzlosigkeit

Die Jobaussichten von Akademikern sind gut, doch auch sie müssen vor der Krise zittern

  • Sabine Sölbeck
  • Lesedauer: 5 Min.

Bildung gilt als sicherer Schutz gegen die Arbeitslosigkeit. Die Berichte darüber, dass vor allem Akademikerinnen und Akademiker gut positioniert, gefragt und bald knapp sein werden, sind zahlreich. Doch wer berichtet da, fragen sich arbeitslose und unterbeschäftigte Akademiker. Immer häufiger schauen sie ärgerlich auf die Schlagzeilen ihrer angeblichen Berufschancen: Akademiker immer obenauf.

Viele haben jedoch andere Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel der Chemiker Ralf S.* (44). Er bezieht seit vier Jahren Hartz IV. Er glaubt den öffentlichen Verlautbarungen nicht mehr. Überall sei von Fachkräftemangel die Rede, eingestellt jedoch werde er nicht. Die GDCh (Gesellschaft Deutscher Chemiker) hatte im März berichtet, dass im Osten Fachkräfte fehlen. Ralf S. kontaktierte den Redakteur und bat um die Nennung von Adressen. Die GDCh antwortete, es tue ihnen leid, aber sie könne keine Stellen vermitteln.

Mär vom Nutzen der Bildungsexpansion

Es ist nicht das erste Mal, das Nachfragen von Ralf S. scheitern. Als eine Wirtschaftszeitung behauptet, Ingenieure und Naturwissenschaftler wären dringend gesucht, fragt Ralf S. ebenfalls nach. Die Antwort: Man habe sich lediglich allgemein erkundigt.

Die allgemeinen Aussagen über die guten Arbeitsmarktchancen für Hochschulabsolventen entstehen aus der Verwertung von Studien. Diese führen zu Ableitungen wie der, dass Akademiker von der Finanzkrise weniger stark betroffen sein werden als andere Arbeitnehmergruppen. Eine gute Ausbildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Junge, gut ausgebildete Menschen befinden sich relativ zu anderen Arbeitnehmergruppen noch in der bestmöglichen Situation. Die Zahlen dieser Studien bestätigen: Akademiker hatten über Jahrzehnte im Vergleich zu Personen mit und ohne Lehr- beziehungsweise Berufsfachschulabschluss eine niedrige Arbeitslosenquote und günstige Lohn- und Arbeitsbedingungen. So steht es im Bericht des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung), Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, für das Jahr 2008. Besonders gefragt sind Ingenieure in bestimmten Regionen, gibt es bei Maschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieuren Engpässe, mittelfristig ist ein Akademikermangel zu erwarten. Der Grund? Der Strukturwandel zur Wissensgesellschaft mit steigendem Bedarf an Hochqualifizierten. Diesem Mangel, so das IAB, kann mit einer neuen Bildungsexpansion begegnet werden. Ein Studium lohne sich, in Zukunft noch mehr als bisher.

Das sei Propaganda, meint Ralf S., um ein akademisches Proletariat heranzuziehen, aus dem die Unternehmen noch besser auswählen können. Der Chemiker hat einiges dafür getan, um erwerbstätig zu werden. Er hatte gedacht, durch Bildung und Fleiß wäre der soziale Aufstieg möglich. Zwei Jahre war er bei der Bundesmarine und ständiger Gast beim Berufsförderungsdienst. Er wählte überlegt das Studium der Chemie, denn Chemiker würden gebraucht. Als Austauschstudent ging er nach Calgary, arbeitete kurzzeitig in der Analytik und Nanotechnologie und schloss seinen Doktor ab. Er praktizierte die von der Politik und der Wirtschaft propagierten Ideale, stellt er rückblickend fest. Bildung als Chance zum Aufstieg, das war das Ideal in seinem Kopf.

Scheu vorm Gang zum Arbeitsamt

Ähnlich geht es anderen Betroffenen. Die studierte Philosophin Claudia A. (34)* verdient ihren Lebensunterhalt in der Gastronomie und wird mit sechs Euro die Stunde entlohnt. Der Historiker Klaus F. (33)* hat zuletzt eine ABM-Maßnahme von der ARGE erhalten. Er lieferte Texte für eine historische Ausstellung. Das Museum selbst kann sich die Bezahlung von Honoraren nicht leisten. Das IAB drückt es galant aus: »Die Passung zwischen erworbener Qualifikation und ausgeübter Tätigkeit sind schwer methodisch zu erfassen. Die Befunde bleiben immer Annäherung«. Eine hilflose Feststellung, die darauf hinweist, dass das Ausmaß der Krise weder qualitativ noch quantitativ zu fassen ist.

Die Volkswirtschaft steckt in einer tiefen Rezession. Die Banken gewähren weniger Kredite, die Güternachfrage geht weltweit zurück, die Exportwirtschaft leidet, die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit steigt, die Zahl der Kurzarbeiter wächst, die Teilzeitbeschäftigung steigt. Das Konjunkturprogramm mit Konsumanreizen durch Steuersenkung und Abwrackprämie soll helfen. Dennoch bezweifelt auch das IAB, dass das Programm schnell wirken wird. Es sei zu unsicher, wie stark die Erwerbstätigkeit auf die Rezession reagiert. Aus dem Verhalten der Unternehmer in der Vergangenheit könne nicht ohne Weiteres auf die Zukunft geschlossen werden. Bei einer rückläufigen Zahl offener Stellen sei es schwieriger geworden, Arbeitslosen sozialversicherungspflichtige Stellen anzubieten. Das Fazit lautet: Auf dem Arbeitsmarkt ist keine schnelle Erholung zu erwarten. Und wenn die Konjunktur anzieht, werden zuerst die Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeit genutzt, bevor eingestellt wird.

Wie aber begegnen wir dem »Gespenst der Nutzlosigkeit« (Richard Sennett), der modernen Bedrohung des Nicht-Gebraucht-Werdens? Ist die Bildungsexpansion die Antwort auf die Krise? Menschen wie Ralf S. glauben nicht daran. Für sie gibt es zu viele ungeklärte Fragen. Die Arbeitslosenzahlen der Akademiker wirken stabil. Warum haben Akademiker dann dennoch den Eindruck, dass sich ihre Situation verschlechtert? Es ist zu vermuten, dass eine ungewisse Zahl an Hochschulabsolventen in fachfremden Berufen arbeitet, dass Akademiker in unterbezahlter Selbstständigkeit ausharren, obwohl sie nur gerade so das Niveau des Grundgehaltes eines ALG II-Beziehers erwirtschaften. Und dass sich Hochschulabgänger aufgrund ihres Wissens um die Praktiken der ARGE nicht arbeitslos melden.

Menschen wie Ralf S. wird gesagt, sie werden von der Expansion der Wissensgesellschaft profitieren. Es wird versprochen, es werden anspruchsvolle, »sekundäre« Dienstleistungstätigkeiten entstehen. Ralf S. erhält keine Chance, erwerbstätig zu werden. Es ist Teil eines »kulturellen Dramas«, wer im System ausgesondert und wer gefördert wird, schreibt Richard Sennett in seinem Buch »Die Kultur des neuen Kapitalismus«. Und sich mit aller Kraft dem Gespenst der Nutzlosigkeit zu stellen, bleibt ein persönliches Drama für jeden Einzelnen.

*alle Namen geändert.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal